Newsletter 110

Februar 2019

Diese Ausgabe enthält folgende Themen:

  • Wir wissen nicht, wer Antonio Santos, Coimbra war
  • "Einfach Zürich", Dauerausstellung im Landesmuseum eröffnet

Wir wissen nicht, wer Antonio Santos, Coimbra war

hpw. Heute, 50 Jahre nach Stonewall staunen wir über den neuen Text zum Kreis-Mitarbeiter Antonio Santos, Coimbra auf schwulengeschichte.ch. Zwar gibt es Illustrationen, Fotos und Texte, die diesen Namen tragen und im Kreis erschienen sind, aber niemand weiss, wer Santos war. Es stellt sich sogar die Frage, ob es einen Antonio Santos überhaupt gegeben hat. Nur ein Jahr bevor der Aufstand gegen die Razzia in der New Yorker Bar Stonewall Inn die Gay Liberation, wie wir sie heute kennen, auslöste, hatte sich der KREIS endgültig aufgelöst. Anfang 1968 fand der Ausverkauf der Bestände statt. Ende März wurde das gesamte Adressmaterial vernichtet. So sahen es die Grundsätze des KREIS vor. 

Jetzt 51 Jahre später zeigt uns der Text des deutschen Historikers Raimund Wolfert mit all den Fragen zu Antonio Santos, was Repression bewirkt. Für uns, die wir heute offen leben können und auf den Social Media freizügig unsere intimsten Details bekanntgeben, ohne dass wir etwas zu befürchten haben, ist das Verhalten von Karl Meier/Rolf unbegreiflich. So schlimm waren die Zeiten doch schon damals nicht mehr? Aber die Satzung des KREIS stammte aus der Kriegszeit, als man mit einem Überfall Nazi-Deutschlands jederzeit rechnen musste und die Repression in Zürich mit ihren Razzien und dem Tanzverbot lag erst knappe sieben Jahre zurück. Das Ende des KREIS war ihre Folge. 

Die Vernichtung aller Unterlagen durch Karl Meier/Rolf macht eine Geschichtsschreibung heute kaum mehr möglich. Die damalige Angst vor der Repression, sie hat uns eines Teils unserer Geschichte wahrscheinlich unwiederbringlich beraubt. Dabei ist das Vorgehen von Karl Meier/Rolf sehr verständlich. Er hatte mit dem KREIS verschiedene Phasen der gesellschaftlichen und politischen (In-)Akzeptanz erlebt und konnte dem Frühling 1968 kaum ganz trauen. Sein KREIS war ja bereits tot. Ob diese gesellschaftliche Öffnung sich wirklich durchsetzen und vor allem halten würde? Zudem hatte die Zürcher Polizei seit den Mordfällen elf Jahre zuvor ihr Homo-Register stark erweitert. Seine Abschaffung erfolgte erst 1979, für Karl Meier/Rolf damals nicht absehbar. Zu diesem Register wollte und durfte er nicht noch freiwillig Material liefern. Er hatte sich gegenüber den Autoren (und Abonnenten) zum Schweigen verpflichtet. Diesem Versprechen ist er 1968 nachgekommen.

Wenn wir heute all unsere Vorhaben, ja unser ganzes Leben in den Social Media posten, vergessen wir, dass auch heute diese Informationen ganz unerwartet gegen uns verwendet werden könnten. So wie das etwa in der Türkei nach dem missglückten Militärputsch geschah, als Facebook-Posts, die noch wenige Monate zuvor unverfänglich schienen, Leute hinter Gitter brachten. Doch hier bei uns sind die Menschenrechte weitestgehend respektiert, wir haben in der Schweiz ein Anti-Diskriminierungsgesetz, das zumindest Schwule und Lesben zukünftig schützen soll, falls das Referendum rechts-christlicher Kreise nicht wider Erwarten zustande kommt und vom Volk angenommen wird. 

All die Fragen, die der Text über Antonio Santos, Coimbra stellt, sie zeigen, wie wichtig es ist, unsere Geschichte weiterzuschreiben und auf schwulengeschichte.ch zugänglich zu machen: damit wir uns im Jubiläumsjahr 2019 daran erinnern, wie viel wir in den 50 Jahren seit dem Aufstand gegen die Polizeiwillkür in und um die Stonewall Inn erreicht haben, damit wir sehen, wie anders das Leben für unseresgleichen damals war und begreifen, dass der Kampf noch nicht zu Ende ist. Hier nicht, und ganz sicher nicht in vielen anderen Regionen dieser Welt.

"Einfach Zürich", Dauerausstellung im Landesmuseum eröffnet

eos. Eine Schau in den Kanton und die Stadt von heute mit Einblicken in die Vergangenheit, das war die Idee für den Raum "Einfach Zürich" im Schweizerischen Nationalmuseum. Stadt und Kanton erhielten ihn zugesprochen, weil sie Standort des Landesmuseums sind und es kein Zürich-Museum gibt. Die Schau beinhaltet auch Aspekte der Schwulengeschichte. 

Nach Fertigstellung des Erweiterungsbaus lag der Weg zum Konkretisieren der Idee offen. Involviert waren sowohl der Bund wie der Kanton mit sämtlichen Gemeinden und die Stadt mit ihren Quartieren. So etwas Vielfältiges und viele Einbeziehendes aufzugleisen, das dauert, und es brauchte zudem eine Volksabstimmung. Diese fiel positiv aus. In einem dreisprachigen Prospekt (deutsch, französisch, italienisch, wie die ganze Ausstellung) schreiben nun die Verantwortlichen: 


"Stadt und Kanton Zürich haben eine lange und bewegte Geschichte. […] Vom Modell einer Pfahlbauerhütte über die Bircherraffel bis zur Fahne einer Jugendbewegung beleuchtet die Schau Zürichs vielfältige Vergangenheit und reichert die zahlreichen historischen Objekte mit filmischen Installationen und modernster Technologie an. Dies ermöglicht den Besuchern ein multimediales Erlebnis."

Das tönt vielversprechend. Und wirklich, das Erlebnis ist gelungen. Es erstreckt sich über drei Räume im ersten Stock über dem Haupteingang des Altbaus. Im ersten Raum wird eingeführt und  eingewöhnt. Der nächste Raum enthält die eigentliche Ausstellung. Sie besteht aus zusammengefügten Schaukastenwänden mit kleinen und grossen Guckkästen in jeder Wand. Man kann rund herumgehen und alles von allen Seiten betrachten. Sechzig solche Guckkästen sind es total, vierzig davon mit einem Gegenstand gefüllt. Zwanzig sind noch leer, denn die Ausstellung ist als Work in Progress gedacht. Vor jeder Wand steht ein grosser Touchscreen. Darauf ist die Wand mit ihren diversen Guckkästen abgebildet. Will man über einen der ausgestellten Gegenstände etwas erfahren, berührt man sein Bild auf dem Touchscreen. Nun öffnet sich die Geschichte dieses Gegenstandes mit einer Abfolge von Kurztexten und Bildern. Den Abschluss, ähnlich wie der Abspann in einem Film, bildet jeweils u.a. die Angabe von Quellen. Im dritten Raum wird geflogen. An sämtlichen Wänden spielt ein Film und trägt die staunenden Besucher mit sich fort. Rundumsehend erleben sie Teile der Stadt, eines Gebäudes wie den Hauptbahnhof oder ein ganzes Dorf irgendwo draussen im Kanton und zwar so, als würden sie knapp über dem Boden wie in einem Traum durch alles hindurchfliegen. Im Ganzen fehlen noch etliche Gemeinden, Gebäude oder typische Landschaften. Auch diese Schau soll noch wachsen. Sie ist total faszinierend. 

Gehen wir zurück in den zweiten Raum. Denn dort ist einer der grössten Guckkästen mit einem Fransenkleid aus der Charleston-Zeit gefüllt, also den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts. Eine Fransenperücke hängt darüber und ein paar schwarze, grosse Pumps mit hohen spitzen Absätzen stehen am Boden. Nichts Besonderes, wie in anderen Kästen auch. Drückt man aber den Touchscreen, erscheinen Texte und Bilder zur Schwulengeschichte. Das ist überraschend für viele, sollte eigentlich nicht mehr sensationell sein, ist aber doch nicht ganz selbstverständlich. Recht spannend, die Gesichter zu beobachten und zu hören, was gesagt oder geflüstert wird.

Vor etwa einem Jahr rief uns (Röbi und mich) eine Frau an, stellte sich als Maria Tschudi, Mitarbeiterin bei Heller Enterprise vor und fragte nach Gegenständen aus der Zeit des KREIS. Martin Heller, der bekannte Kulturunternehmer und Kurator, gehöre zum Team, das für die geplante Zürich-Ausstellung zeichne. Röbi kam rasch auf sein ehemals für einen Auftritt in der Basler Isola selbst gefertigtes Fransenkleid mit Perücke und Stola zu sprechen. Frau Tschudi war begeistert, obschon Röbi erwähnte, dass es bereits im Jahr 2000 anlässlich der damaligen KREIS-Ausstellung im Landesmuseum gehangen habe. So kam es denn erneut ins Landesmuseum, in diesen Guckkasten. Was hatten wir doch seinerzeit für Spass, als wir es Ende der 1950er Jahre gemeinsam entwarfen und er es nähte. Immer wieder musste er anprobieren und damit nach der Charleston-Schallplatte tanzen und das Lied singen, dessen Text ich ihm zusammengestiefelt hatte. Die grosse Rolle mit Fransen erwarb er im Ausverkauf bei einem Vorhanggeschäft, das es längst nicht mehr gibt. Und für die Perücke nahmen wir einen alten Filzhut, dessen breiten Rand wir abgeschnitten hatten. Nun hängt es schlapp und nichtssagend, fast traurig da. Eigentlich müsste es bewegt werden, dass die Fransen fliegen. Aber ja, es dient lediglich als Einstieg in die Schwulengeschichte. Dort allerdings erscheint ein Bild mit Röbi, wild tanzend im Fransenkleid mit giftgrüner Masche und wehender Stola. Immerhin.

Dennoch, die knapp erzählte Schwulengeschichte ist einseitig, finde ich, nämlich ohne die Lesbengeschichte und viel zu stark nur auf Röbi und mich konzentriert. Das muss später einmal geändert werden. Die Ausstellung soll sich ja weiter entwickeln. Sie ist gratis und richtet sich nach den üblichen Öffnungszeiten des Museums. Hingehen und nachsehen, sich im Flugraum verzaubern lassen und dann wieder in der Geschichte, den vielen Geschichten stöbern, es lohnt sich!