Newsletter 114

Juni 2019

Diese Ausgabe enthält die folgenden Themen:

  • Vor zehn Jahren ging schwulengeschichte.ch ins weltweite Web
  • Der Verein schwulengeschichte.ch braucht deine Unterstützung

Vor zehn Jahren ging schwulengeschichte.ch ins weltweite Web

eos. Nach intensivster Arbeit konnte ein Team von Fachleuten 2009 im Vortragssaal des Zürcher Kunsthauses den entscheidenden Knopf drücken. Das Werk war geboren und schwulengeschichte.ch stellte sich im weltweiten Netz einem unsichtbaren Heer von Benutzern. Ein Novum. Denn die Geschichte der homosexuellen Minderheit einer Nation ins Internet gestellt, das gab es noch nie, da war die Schweiz voraus, um Jahre voraus, wie wir heute wissen. Das Ereignis wurde am Abend des 3. Juni entsprechend gefeiert und war zugleich der Auftakt zur EuroPride, die über das Wochenende vom 6./7. Juni ihren Höhepunkt erreichte.

Während der Ausstellung "unverschämt – Lesben und Schwule gestern und heute" 2002/2003 im Zürcher Stadthaus erhielten Röbi Rapp und ich vom Stadtpräsidenten den Auftrag, einen Katalog zu erstellen. Wir waren verantwortlich für den Ausstellungsteil zur Männergeschichte und merkten rasch, dass die vorhandenen Texte nicht genügten. Wir mussten breiter und tiefer suchen, bei Zeitzeugen, in Archiven etc. Diese Nachforschungen beschäftigten uns zwei Jahre lang intensiv. Nachdem wir die gesammelten Quellen geordnet hatten, begann ich Anfang 2005 mit der Niederschrift erster Kapitel. War ein Kapitel fertig, druckte ich es aus und Röbi bereinigte es. Danach ging es per Mail zu unserem Freund und Mitwisser Beat Frischknecht, der es auf seinem Computer sicherte. Ganze vier Jahre später, im Oktober 2008 beendeten wir das letzte Kapitel. Bis jetzt war das Buch ein Geheimnis von vier Männern: Röbi und ich, Beat und Giovanni Lanni. Giovannis Hilfe bestand darin, dass er uns am Wochenende in die Natur hinaus nahm zum "Auslüften". Da war es verboten, vom Buchprojekt zu sprechen. Das tat gut, so hielten wir durch.

Im Frühling 2008 kamen neu "eingeweihte" Freunde aus dem Verein Network auf uns zu. Zürich hatte den Zuschlag für die EuroPride 2009 erhalten. Die Vernissage des "Schwulengeschichte"-Buches sollte einer der Höhepunkte dieses internationalen Anlasses werden. Erstaunlich rasch fanden wir mit NZZ Libro einen interessierten Verlag. Sie verlangten jedoch eine starke Kürzung des Manuskripts. Die Zeit bis zur EuroPride war knapp und ich schaffte die Bearbeitung, indem ich fast Tag und Nacht dran war. Am 3. November 2008 sassen Röbi, ich und unser Freund Christian Fuster wieder im Verlagsbüro. Christian trug die grossen Ordner mit dem ausgedruckten Text. Der war noch immer viel zu umfangreich und hätte ein dreibändiges Werk ergeben. Zu teuer und nur für wenige Leser geeignet. Weitere massive Kürzungen kamen für mich nicht in Frage. Es ging mir um die Vorkämpfer und Mitkämpfer, um Menschen, die ich nicht nur erwähnen, sondern als Zeitzeugen sichtbar und fassbar machen und der Nachwelt möglichst mit ihren eigenen Worten und Berichten zu ihren Taten erhalten wollte. Ihnen, von denen die meisten nicht mehr lebten, waren wir das schuldig. Zudem gab es nach uns niemand mehr, der sie kannte und authentisch erzählen konnte.

Die Verlagsleiterin zeigte uns einen Ausweg. Wir könnten eine Website schaffen, da brauchten wir weder einen Verlag noch Kürzungen der Texte. Auf der Heimfahrt malten wir drei diese Idee weiter aus. Röbi und ich konnten uns eine Website nicht so recht vorstellen. Wir fragten im Network nach Fachleuten. Bereits am 7. November gab es ein erstes Treffen, woraus eine Gruppe mit Stephan Jaray, Thomas Voelkin und Christian Fuster entstand. Zu Beginn des neuen Jahres konnte das gewaltige Projekt angegangen werden. Besondere Aufmerksamkeit verlangten die Illustrationen, denn alle Rechte mussten geklärt und die entsprechenden Daten bei jedem Bild angegeben werden. Die Zeit drängte. Es standen knapp sechs Monate zur Verfügung.

Eine heikle Sache war die Finanzierung. Denn die Sponsoren zogen ihre Angebote zurück. Sie hatten ein Buch mitfinanzieren wollen. Eine Website hielt man damals für etwas ziemlich Exotisches. Die Unterstützung von Websites war auch in keinem Stiftungsreglement erwähnt. Es brauchte viel Überzeugungsarbeit. Wider Willen waren wir mit dieser elektronischen Schwulengeschichte zu Pionieren geworden. Schliesslich floss Geld, allerdings zögerlich und bestenfalls die Hälfte dessen, was für das Buchprojekt gesprochen worden war. Eine Website sei in fünf Jahren überholt und gelöscht, meinten solche, die "es wussten".

Mit enormem Einsatz jedes Einzelnen schafften wir es. Am 29. Mai 2009 verschickten wir 400 Exemplare der zusätzlich gefertigten grossformatigen Broschüre "Es geht um Liebe. Schwule in der Schweiz und ihre Geschichte. www.schwulengeschichte.ch". Sie gab auf 74 Seiten einen Überblick der Website, zitierte etliche Kapitel vom Anfang (1836, "Eros" von Heinrich Hössli) bis in die Gegenwart, war eingeleitet mit der "Würdigung" von David Streiff und enthielt viele Illustrationen. Wir wollten mit diesem Heft möglichst vielen ins Projekt involvierten Menschen und Institutionen etwas "Handfestes" zurückgeben und zugleich neue Sponsoren gewinnen.

Am 3. Juni beim Festakt zur Aufschaltung im vollen Saal des Kunsthauses gab es Ansprachen von Markus Notter, Regierungsrat des Kantons Zürich, Corine Mauch, Zürcher Stadtpräsidentin, und von André Salathé, Staatsarchivar des Kantons Thurgau. Auch ein schwarz glänzender Flügel stand auf dem Podest, worauf Oliver Fritz den im weissen Dinnerjacket und schwarzen Zylinder auftretenden Röbi begleitete. Mit Chansons aus den Jahren des KREIS liessen beide jene vergangene Zeit erstrahlen - und manche staunten, wie aktuell die Lieder geblieben sind. Eigentlicher Höhepunkt war natürlich das Starten der Website und der Moment, als auf der grossen Leinwand aus dem World Wide Web das Titelbild von schwulengeschichte.ch erschien. Irgendwann danach schritten die vielen Frauen und Männer zum Apero, den Christian Fuster und seine Eltern und Geschwister mit Produkten ihres Hofes im Tösstal und Schweizer Weinen zu einem kulinarischen Höhepunkt werden liessen. Daneben verkauften wir die Broschüre und signierten sie pausenlos, bis die Finger schmerzten.

Drei Tage später versammelten sich Tausende von bunt gekleideten Menschen zum EuroPride-Umzug. Ganz fromme Gegner beteten aktiv für Gewittersturm und Regengüsse zum Zeichen, dass der Himmel unser Tun bestrafe. Es war vorerst mal sonnig, dann folgte ein kurzes Gewitter, schliesslich aber, und genau zur Zeit des Versammelns auf dem rappelvollen Münsterplatz, klarte es auf, die Sonne schien und ein Regenbogen leuchtete über dem Grossmünster und hinüber bis zur Universität. Röbi und ich waren in einem Cabrio am Umzug dabei und hielten einen dreiseitigen Karton-Balken in die Höhe, worauf "schwulengeschichte.ch" stand. Giovanni hatte ihn gebastelt. Und tatsächlich, unser ganzes Website-Team erhielt auf der Bühne vor dem Fraumünster den Stonewall Award mit einer kurzen Laudatio der Pride-Verantwortlichen und auch der Stadtpräsidentin.

Noch zwei Dinge sind zu sagen. Der ursprüngliche Titel unserer Schwulengeschichte hiess "Es geht um Liebe". Wir fanden das damals - und ich finde es noch heute - eminent wichtig. Denn die ganze Gay Liberation auch in der Schweiz wendet sich gegen Vorurteile und Ausgrenzung und damit gegen die widernatürliche Spaltung in "gute" oder "sündhafte" Liebe. Ihr wichtigstes Anliegen ist die befreiende Botschaft "Liebe ist immer Liebe", und sie preist das als wohltuende Öffnung des eigenen Denkens. Es war diese Haltung, die alle weltweiten Bestrebungen um gleiche Rechte zu einem gewaltlosen Kampf machte. Dabei trägt kaum eine und kaum einer von uns nicht Narben der Ausgrenzung und des Hasses in sich, des Hasses aus Vorurteilen, aus blinden Vor-Verurteilungen, dessen Opfer wir ohne eigene Schuld wurden. Doch erst das Ablegen der eigenen Verletzungen - nicht aber des daraus entstandenen gewaltigen Antriebs - befähigte uns zum Kampf für unsere Rechte, deren Basis die universellen Menschenrechte sind. 

Die andere Ergänzung betrifft die erste Revision. Nur Tage nach der Aufschaltung meldeten Benutzer, dass es ermüdend sei, die langen Kapitel mit fast endlosem Scrollen durchzugehen. Ja, wir hatten die Buchlogik übernommen, obwohl alle Fachleute im Team wussten, dass eine Website anders funktioniert. Es fehlte uns schlicht die Zeit für einen Umbau. Jetzt machten wir uns zügig an die Anpassungen. Stephan Jaray druckte Kapitel um Kapitel aus und ich zerschnitt jedes in Teile, die als Webpages alle einen eigenen Titel und oft ein paar Übergangssätze erhielten. Jedem Kapitel musste ein "Intro", eine neu zu formulierende Übersicht und Einführung vorangestellt werden. Hinzu kamen auch viele neue Illustrationen, die Röbi sammelte und ordnete. Auch ihre Rechte waren abzuklären und jedes Bild brauchte seine Legende. Stephan setzte dann das eben fertig gewordene Kapitel wieder korrekt ins Netz. Nach fast zwei Jahren hatten wir es geschafft.

Der Verein schwulengeschichte.ch braucht deine Unterstützung

eos. Natürlich wussten 2009 alle im verantwortlichen Team, dass das Aufschalten der Website zwar ein Abschluss, aber zugleich der Beginn von vielen neuen Versionen war. Eine Website ist kein gedrucktes Buch, sondern eine lebendige, sich dauernd erneuernde Sache, ein nie endender Prozess. Um das mit einer Redaktionsgruppe und auch finanziell leisten zu können, war die Gründung eines Vereins notwendig. Er muss heute dringend weiter wachsen. Denn die Website wird seit Jahren mit konstant über 2000 Usern pro Monat erfreulich oft benutzt - und sie steht gratis zur Verfügung.

In den vergangenen zehn Jahren ist die Website zweimal gründlich überarbeitet worden. Sie wurde ergänzt, es gab kleine Korrekturen und Anpassungen, aber es kamen auch laufend neue Beiträge dazu. Alles wurde regelmässig im monatlichen Newsletter kommuniziert.

schwulengeschichte.ch braucht mehr Gönner, Spender und Mitglieder, um finanziell den Erhalt und die Weiterentwicklung der Website gewährleisten zu können. Er braucht aber auch Menschen, die an der Schwulengeschichte interessiert sind und sich für das Projekt durch Mitarbeit einsetzen wollen. Aufgaben gibt es viele, von der Vernetzung über die Erarbeitung neuer Inhalte bis zum Fundraising. Auf mehr Schultern verteilt, kommt die Website besser voran und macht die Arbeit mehr Spass.

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