Newsletter 129

September 2020

Diese Ausgabe enthält folgendes Thema:

  • Erinnerungen an Thomas Wetzel, geb. 1930

Erinnerungen an Thomas Wetzel, geb. 1930

eos. Ich war mit ihm befreundet; dieses Jahr wäre er 90 geworden. Er lebte wie ein Komet am Nachthimmel, kurz und strahlend hell. Eigentlich leuchtete nicht er selbst, es war sein Werk, seine Mode, die neuartig auffallenden Kreationen. Mit ihnen eroberte er Zürich, dann die Schweiz und schliesslich die halbe Welt. Zum Label machte er seinen Vornamen und nannte das Geschäft Tom Men's Shop. Ihm ging es ausschliesslich darum, Männer stilvoll-körperbetont erscheinen zu lassen, ebenso elegant in exquisite Stoffe oder Lederarten eingekleidet wie bis zum fast Nichts ausgezogen. Material, Schnitt und Farben waren dem Trend stets um Jahre voraus oder bestimmten direkt, was später "Mode" wurde.

Eigentlich war Tom Berliner. Irgendwann nach dem Krieg trennten sich seine Eltern und die Mutter zog mit dem Jungen Richtung Schweiz, um eine gute Partie zu machen und zugleich den Schweizerpass zu erhalten. Sie wusste sehr genau, was sie wollte und auch wo ihr schwuler Sohn gesetzlich besser stand, um sich was aufbauen zu können.

Dieser Sohn nun hatte drei besondere Begabungen. Er war ebenso kreativ wie geschäftstüchtig, und er war permanent erotisch aufgeladen. Ich weiss das, weil Tom für mehrere Monate mein Wohnungsnachbar war und unüberhörbar jede Nacht mit mindestens einem Besucher feierte. Im frühen Abend sassen er und ich oft beisammen, weil es sinnlos schien, dass jeder für sich ein Essen zubereitete. Tom war ein liebenswürdiger, meist gutgelaunter, witziger Kamerad und auch sehr grosszügig, wenn er jemanden mochte. Das Thema "Beruf" mieden wir konsequent, es stand ja reichlich anderes zur Auswahl. Jeweils gegen zehn brach er auf mit der Floskel: "Du weisst, die 'Freiersfüsse' ziehen."

Richtig begann es mit uns einige Zeit früher, als wir beide 25 waren. Im Café Java an der Oetenbachgasse sass er zwei Tischchen von meinem entfernt und, wie es so schön im Englischen heisst, wir gaben uns "the glad eye". Damals war die linke Seite des Lokals "einschlägig". Es verkehrten dort eher jüngere, "seriöse" Leute, also keine Stricher. Man nahm Augenkontakt auf und traf sich später draussen gassaufwärts Richtung Lindenhof, wo es spazierenderweise zum üblichen Gespräch und der wichtigen Frage "Zu dir? - Zu mir?" kam. Gesittete 1950er Jahre eben. Tom und ich entschieden uns für das "Zu ihm", obwohl auch ich sturmfrei in eigener Wohnung hauste. Seine war grösser. Dass er sie mit einem Zimmerherrn teilte, erfuhr ich erst am nächsten Morgen, einem Sonntag. Recht früh kroch ich aus dem Bett, wollte mich waschen und dann gehen, um bei mir in Ruhe noch etwas nachzuschlafen. Wiederum beschreibt es eine englische Wendung treffend: Too much bed, yet not enough sleep. Damals gab es nur diesen einen freien Tag. Tom flüsterte mir bei offener Türe zu "Mach' leise, wecke den Untermieter nicht!" Das tat ich, unwissend, dass dieser Untermieter Frühaufsteher war. Wie ich das Bad verliess, trat er aus seinem Zimmer und lachte, "na, dich also hab' ich erwischt", öffnete seine Arme und wisperte mir ins Ohr, "das bleibt unter uns!" Schon verschwand er wieder und drehte den Schlüssel. Noch heute vermute ich, dass er bewusst auf diesen Moment gewartet hatte. Sowas passte zu ihm.

Diesen Mann hatte ich erst wenige Monate zuvor kennengelernt, nämlich beim Antrittsbesuch im Büro des KREIS, als ich dem Leiter Karl Meier / Rolf die definitive Anmeldung als Abonnent übergab und zugleich als Mitarbeiter oder besser als Hilfskraft ins Team aufgenommen wurde. Im Büro anwesend war auch er, dieser Mann. Ich nahm ihn jedoch kaum wahr, weil er ständig an der Schreibmaschine klapperte und offensichtlich eine Art Sekretär-Stelle versah. Als ich, Tage später, erste Arbeiten erledigen durfte, stellte er sich vor als Redaktor des englischen Teils der Zeitschrift, Rudolf Burkhardt. Das war sein Pseudonym, eines von vielen. Richtig hiess er Rudolf Jung und war Deutscher. Wir mochten uns auf Anhieb und unterhielten uns meist in Englisch.

Zwei Jahre später eröffnete Tom, nun 27-jährig, seine erste kleine Werkstatt, die gleichzeitig Verkaufslokal war. Er fabrizierte Jacken und Mäntel aus Wildleder und inserierte im Kleinen Blatt des Kreis. Das war neu. Lederbekleidung kannte man nur als schwerfällige Monturen für Motorradfahrer oder aus Erinnerung an die langen schwarzen Mäntel hoher Offiziere der nazideutschen Wehrmacht. Was aber Tom anbot war jenseits aller Uniformen, war Stück für Stück einmalig in Material, Färbung und Schnitt. Es machte aus jedem Träger etwas Besonderes.

Inzwischen hatte ich Röbi kennengelernt. Zu unserem ersten gemeinsamen England-Aufenthalt am Shakespeare Theater von Stratford-upon-Avon leisteten wir uns Jacken von Tom. Geschmeidig weiches Wildleder in extra hellem Rehbraun war Toms Vorschlag für uns beide. Doch jedem Stück gab er eine eigene Form. Damit fielen wir schon am Flughafen auf und drüben wurde vor allem Röbi bewundert, denn bühnengewohnt, wie er war, wusste er sich überall dezent in Szene zu setzen. Er war ja auch der Neuling im ganzen Umfeld meiner fast ausschliesslich schwulen Theater-Freunde. "Letting Tom win", schrieben wir auf einer Karte nach Zürich, unterzeichnet von vielen. Sie hing lange in Tom's Atelier.