Newsletter 131
November 2020
Diese Ausgabe enthält folgendes Thema:
- Kirche und wir, ein Blick zurück
Kirche und wir, ein Blick zurück
eos. Als wir in Europa und Amerika unter der Repression litten, hatten sich die Kirchen auf den Weg der Ökumene besonnen, des "Zusammenwohnens", auf die Suche nach Gemeinsamem. Papst Johannes XXIII (1958-1963) strebte eine Öffnung und Erneuerung an mit dem zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965). Ein Zeichen der Hoffnung, auch für uns.
In den USA herrschte Polizeigewalt seit der McCarthy-Ära (ab 1947) und bei uns seit 1958. Mit Gay Liberation, der Befreiungsbewegung, beendeten wir ab 1970 die Repression schrittweise, erreichten in zehn Jahren das Geduldet-werden und waren auf dem Weg zur Akzeptanz. Die katholische Kirche aber ging nach dem Tod des Reformpapstes (1963) in umgekehrte Richtung. Schliesslich griff der polnische Papst Johannes Paul II (1978-2005) nur ein Jahr nach seiner Wahl gleichgeschlechtlich lebende Menschen direkt an und belegte sie in aller Öffentlichkeit mit dem Begriff Sünder.
Das nahmen die "Sünder" nun nicht mehr hin. Ihre Enttäuschung und Wut waren gross. Sie wehrten sich öffentlich, was viel Mut erforderte. Vor vierzig Jahren nahm die Kirche noch eine starke Stellung in der Gesellschaft ein; ihre dezidiert gläubigen Anhänger bildeten die Mehrheit der Bevölkerung.
In der heutigen Welt, die nicht nur Corona-bedingt verunsichert ist, sondern auch von zunehmendem Despotismus und von Ängsten und Aggressionen geprägt wird, in dieser Gegenwart lohnt es sich, den damaligen Worten des Einsatzes für Gleichberechtigung, Menschlichkeit, Liebe und für Anerkennung des anders Gearteten zuzuhören. Es wirkt zuversichtlich.
Gewisse Kirchen in der Bretagne stehen in einem ummauerten Gelände, genannt Pfarrei-Hof oder Bezirk (enclos paroissial). Er bot Verfolgten Schutz, sobald sie ihn betreten hatten. Dort durfte keine weltliche Macht den Flüchtigen oder die Flüchtige verhaften. Die Kirche als heilige Stätte, als Ort des Glaubens und der Zuflucht, als Ort auch, der jedem, auch jedem Sünder offen steht, das haben viele Menschen verinnerlicht. Selbst Ungläubige oder Kirchenferne empfinden etwas Besonderes, wenn sie in einer Kirche stehen. Es ist die Stille, der Abstand von allem Draussen. Ein Raum des Besinnens.
Davon ausschliessen darf man niemand, besonders nicht jene, die von der Allgemeinheit ausgeschlossen werden. Doch genau das tat dieser fromme Mann aus dem frommen Polen. Er reiste in die USA und hielt am 5. Oktober 1979 vor grossem Publikum eine Rede, in der er - zehn Jahre nach Stonewall - homosexuelle Kontakte als sündhaftes Tun bezeichnete, auch dann, wenn sie in einer langjährigen Paarbeziehung stattfinden. Als man ihn darauf hinwies, dies sei keine frohe Botschaft für 5 bis 10% der Menschen, lautete seine Antwort: "Wir können nicht allen gefallen." Damit war die Türe zum Dialog zugestossen.
Es war wohl eine saloppe Bemerkung eines vermutlich genervten Mannes. Doch sie weckte Widerstand. Erstmals begannen Schwule und Lesben weltweit, einen Papst öffentlich zu kritisieren. In der Schweiz tat es die Theologin Else Kähler, Studienleiterin des Evangelischen Tagungszentrums Boldern ob Männedorf, in einem Brief an den Tages-Anzeiger vom 26. Oktober 1979. Bereits zuvor hatte sich die IGA (International Gay Association) mit einem Offenen Schreiben an den Papst gewandt, das von je zwei Vertretern in Dublin und Amsterdam unterzeichnet war und international verbreitet wurde. Daraus einige Passagen:
"Eure Heiligkeit,
Zum ersten Mal in Ihrem Pontifikat haben Sie sich ausdrücklich und öffentlich zur Homosexualität geäussert. […] Wir wissen, wie schwierig es sein muss, innerhalb der römisch-katholischen Kirche Schranken zu beseitigen gegen moderne Ansichten über umstrittene Probleme wie Abtreibung, Frauenemanzipation, Ehescheidung, ausserehelichen Geschlechtsverkehr und Homosexualität. Wir glauben aber an das unabdingbare Recht jedes Individuums auf Selbstbestimmung über sein Leben und seinen Körper. Wir begreifen, wenn ein ausschliesslich männliches Priestertum den Bezug zur geschlechtlichen Praxis seiner Gläubigenschar verliert, nicht zuletzt als Folge des unnatürlichen und sexuell anormalen Zölibates. […] Wir möchten Sie wissen lassen, welche Freude und Labsal gerade unsere Wesensart uns homosexuellen Männern und Frauen verschafft, doch Sie scheinen diese Wesensart zu verachten. […] Wir bitten Sie dringend, den Homosexuellen nicht länger das Recht abzusprechen, ihr Leben nach ihren innersten Bedürfnissen und Gefühlen zu leben."
Dieses offene Benennen dessen, was gleichgeschlechtliches Leben ausmacht, nämlich Erfülltsein von Liebe und gemeinsamem Glück genauso wie es in der heterosexuellen Liebe empfunden wird, das war neu. Und dass es als Tatsache der breiten Öffentlichkeit vor Augen geführt werden konnte, dazu hatte der neue Papst die Bühne geschaffen. Denn wo sich das Ausschliessen und der Hass auf das "Böse" zusammenbrauen, formen sich immer Gegenkräfte. Sie wurzeln in der menschlichen Urerfahrung, dass Hass zerstört und niemandes Leben sinnvoll und glücklich macht.
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