Newsletter 135

März 2021

Diese Ausgabe enthält folgende Themen:

  • Noël Bach, ein Opfer vor 60 Jahren
  • Ein Rückblick auf ein Jahr mit Corona

Noël Bach, ein Opfer vor 60 Jahren

eos. Sechzig Jahre ist keine lange Zeit. Damals war es die Polizei, die uns verfolgte, erpresste und ihre Verdächtigungen an andere Behörden, die Familie, den Arbeitgeber weitertrug. Gesetzeswidrig. Niemand wehrte sich. Heute sind es jugendliche Schläger, die Übergriffe begehen und denken, sie wären im Recht. Die Angst geht um wie damals. Bestimmte Orte werden gemieden. Rechtlose Räume. Mit wenigen Ausnahmen weigern sich verantwortliche Behörden, solche Straftaten statistisch aufzunehmen, Mittel zur Eindämmung einzusetzen oder sie zu verstärken. Manches erinnert an die Zeit von damals. Doch wir wissen, dass sich viel, sehr viel verändert, verbessert hat. Und wir wissen auch: Dorthin zurück wollen wir nie mehr. Niemals.

Schläger gab es früher auch. Bei gewissen Pissoirs, in bestimmten Teilen von Parkanlagen. Wir wehrten uns mit Trillerpfeifen. Jeder hatte stets eine bei sich. Das half. Es würde vielleicht auch heute helfen, rechtzeitig eingesetzt. Schon immer mussten wir uns selber wehren. Und wir mussten Verbündete suchen, wenn es welche gab.

Ich will hier auf ein Beispiel hinweisen: Noël (geb. 1936) war ein bildschöner Mann mit blondgelockter Löwenmähne. Er wohnte damals, Anfang der 70er Jahre, in meiner Nähe im Zürcher Seefeld. Ich sah ihn oft, aber er schien mich nie zu bemerken. Bis wir ihn in der Tonhalle hörten, Röbi und ich. Er trat an einem Liederabend auf und sang ergreifend schön. Darauf sprach ich ihn an. Es ergaben sich kurze Gespräche immer, wenn wir uns auf der Strasse sahen. Einmal lud er mich in sein Zimmer ein, wo wir eingehend diskutierten. Er hatte Theologie studiert, aber nicht abgeschlossen und zum Gesang gewechselt. Wir sprachen aber über Literatur, auch da trafen wir uns. Eigentlich wollten wir diese Gespräche weiterführen, doch plötzlich war er weggezogen.

Etwa dreissig Jahre später begegneten wir uns wieder, als Röbi und ich im Sommer 2002 einen Mittwoch-Treff im Verein Network besuchten. Röbi hatte ihn zuerst erkannt und fragte, ob jener Mann dort nicht der schöne Liedersänger von damals sein könnte. Ich war nicht sicher. Er hatte sich stark verändert, war gealtert. Ich sprach ihn an, er war es tatsächlich. Nun stellte ich ihm Röbi vor und wir erfuhren einiges aus seinem bewegten Leben und wussten jetzt natürlich, dass er schwul war. Das stelle er nie in den Vordergrund, er lebe seit sehr langer Zeit mit einem Freund.

Wenig später lud er uns zu sich und seinem Freund ein. Sie wohnten in Feldmeilen am Zürichsee. Zuvor aber klärte uns Noël auf, dieser Freund sei Chefredaktor gewesen, ein bekannter, gebildeter und sehr liebenswürdiger Mensch, der leider vor fünf Jahren einen Unfall mit unheilbarer Hirnschädigung erlitten habe. Die Ärzte hätten ihn gepflegt statt sterben lassen, obschon man diesen Ausgang vorhersehen konnte. Nun sei es seine Aufgabe, ihn zusammen mit einem Pfleger rund um die Uhr zu betreuen. Es war eine eindrückliche Begegnung mit diesen beiden Menschen und dem jungen südamerikanischen Assistenten, der offensichtlich mit Noël in einer Beziehung stand. Sukzessive hatte Noël jede berufliche Tätigkeit aufgeben müssen. Er war nun 66 und ohne Perspektive.

Drei Jahre später trat er bei Network aus, das Gebundensein liess ihm keine andere Wahl. Wir trafen ihn gelegentlich, wenn er im Seefeld einkaufen ging. Er wurde zusehends runzliger, die Haare dünne weisse Strähnen. Immer wirkte er gestresst, selten reichte es zu mehr als kurzen Grüssen. Einmal bemerkte er, der Pfleger sei abgereist, die Spitex habe übernommen. Zur etwa gleichen Zeit als Röbi starb (2018), hörte ich von einer Bekannten, auch Noël sei gestorben. Was mit seinem Freund geschehen war, wusste sie nicht.
Noël war 1961 während der Razzien und Verfolgung von Homosexuellen in die Fänge der Zürcher Polizei geraten. Davon verfasste er einen Bericht unter dem Decknamen "Boris", den wir 1978 in der Zeitschrift hey veröffentlichten. Es war die Zeit des Kampfes zur Abschaffung der Homoregister in Zürich und hey suchte Opfer der Repression, die als Zeugen ihre Erlebnisse schildern konnten.

Als wir Noël und seinen Freund damals in Feldmeilen besuchten, sprachen wir auch über "unverschämt", die Ausstellung zur Schwulengeschichte im Zürcher Stadthaus, und dass es noch einen Katalog oder ein Buch dazu geben könnte. Spontan erwähnte er seinen Bericht im hey und bat uns, darauf einzugehen, das sei wichtig, und wir sollten dabei seinen richtigen Namen verwenden.

Noël Bachs Bericht ist auf schwulengeschichte.ch nachzulesen

Ein Rückblick auf ein Jahr mit Corona

dbr. Jahresrückblicke sind was für tagesaktuelle Medien, da erstaunt es vielleicht, wenn eine Website, die sich der Geschichte verschrieben hat, auch auf diesen Zug aufspringt. Geschichtsschreibung braucht in der Regel zeitliche Distanz zu Ereignissen, um deren Relevanz zu erkennen. Was uns heute wichtig erscheint, ist vielleicht in zehn Jahren nur noch eine Fussnote wert. Auf unserer Website enden die Beschreibungen in den Epochen deshalb mit der Einführung des eidgenössischen Partnerschaftsgesetzes. Das war 2007, liegt also 13 Jahre zurück. 2020 wurde durch die Corona-Pandemie ein besonderes Jahr, auch für die LGBTI*-Community.

Die Veränderungen durch Corona werden wohl in die Geschichte eingehen, darum wagen wir hier einen Fokus auf die Ereignisse der vergangenen 12 Monate. Mit so einem kurzen Zeithorizont ist klar, dass Ereignisse nicht auf schwulengeschichte.ch dokumentiert sind. Die Links verweisen deshalb in die Gegenwart der Organisationen, denen in diesen herausfordernden Zeiten die Aufmerksamkeit gegönnt sei.

Wir erinnern uns: Am 13. März 2020 verfügte der Bundesrat für die ganze Schweiz einen Lockdown. Ein neues Wort. Wir lernten schnell, dass es für unbekannte und massive Einschränkungen der persönlichen Freiheit, des wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Lebens steht. Damals dachten viele von uns nicht, dass diese Situation lange auszuhalten wäre. Ein Jahr später wissen wir, dass das nicht stimmt. Das gesellschaftliche Leben kam während der beiden Wellen im Frühling und Herbst fast zum Erliegen. Und im Home-Office sollten Video-Konferenzen persönliche Kontakte am Arbeitsplatz ersetzen. Das belastet uns schon lange und immer noch.

Auch die Aktivitäten vieler LGBTI*-Organisationen wurden durch Corona beeinträchtigt oder gar verhindert. Nachdem sich im ganzen Land in den letzten Jahrzehnten eine reiche Szene entwickelt hat, stand plötzlich alles still: kein Queer Tango bei Dialogai in Genf, kein Stammtisch "der fröhliche Mittwoch" bei den HAB in Bern und keine spot25-Treffen bei der HAZ in Zürich. Keine Auftritte von den schwulen Männerchören schmaz in Zürich oder schwubs in Bern, ja nicht mal gemeinsames Singen oder das Einüben von Choreografien waren und sind möglich.

Das Wort "abgesagt" wurde zum wichtigsten Verb in queeren Veranstaltungskalendern der Schweiz. Waren zum Beispiel im "(hab)info" vom März/April 2020 noch einige Veranstaltungen mit realen Orten aufgeführt, fand man in der Folgenummer vom Mai/Juni 2020 bereits eine Ortsangabe, die "online via Video-Meeting" hiess. Oder es tönte unter dem Titel "Ein Abschied ohne Abschied?" so: "Eigentlich wollten wir uns mit einem Apéro […] von der Villa Stucki verabschieden…". Darauf folgte die Aufforderung an die Lesenden, Bilder und Geschichten einzusenden, die mit dem ehemaligen Treffpunkt Villa Stucki verbunden sind, damit diese auf der Webseite veröffentlicht werden können.

Die Verantwortlichen für Angebote und Veranstaltungen reagierten mit erstaunlicher Kreativität. Es war eine Freude zu sehen, wie sich alle ins Zeug legten, um veränderte Angebote zu kreieren und der Community einen Ersatz zu geben, für das, was sie wegen Restriktionen nicht mehr hatte. Und auch wenn die Einschränkungen im Sommer zum Teil wieder gelockert wurden, so zeigte die zweite Welle im Herbst, dass es noch schlimmer kommen kann. Unter den Begriffen Teil-Lockdown oder Mini-Lockdown schlossen queere Treffpunkte, wozu auch alle Bars und Restaurants gehörten. In der kalten Jahreszeit traf dies die Community noch einmal besonders hart.

Zum Glück haben verantwortliche Veranstalter alles versucht, um Angebote, zum Teil in anderer Form, aufrecht zu erhalten: Queersicht in Bern hat sein Festival im November geplant und dabei gehofft, dass bis dann alles wieder besser sei. Kurz vor dem Festival kam dann doch die Absage. Aber immerhin wurden die Kurzfilme online gezeigt oder, wie es auf der Webseite heisst: es fand "Queersicht auf der Couch" statt.

Das Filmfestival Pink Apple in Zürich hat Termine geschoben und zwischen zwei Corona-Wellen sein Programm mit Schutzkonzept, über Wochen verteilt, in die Kinos gebracht.  Kurz vor Schluss, Ende November wurde die Reihe dann abgebrochen, gezwungenermassen nach Schliessung aller Kinos. Trotzdem wird guten Mutes bereits das nächste Festival geplant. Vor kurzem verkündete der Newsletter: "Auch wenn wir derzeit noch nicht wissen, ob wir das Festival aufgrund der pandemischen Lage durchführen können, planen wir bereits ein diverses Filmprogramm und spannende Schwerpunkte für euch. Für uns hat sich nämlich eines bestätigt: In diesen Zeiten ist es uns besonders wichtig, einen Platz für Kultur und für unsere Community zu schaffen!"

Network-Apéros finden in den Regionen online statt - dank praktischer Videokonferenz-Tools. Ein Treffen im Netz erfordert zwar eine andere Struktur; einfach zusammenkommen und plaudern mit wem man will, geht nicht ohne weiteres. Es werden darum thematische Inputs angeboten, die die Teilnehmenden zu Zuhörern macht. Nicht zwingend eine ideale Apéro-Situation. Damit eine persönliche Note gewährleistet ist werden darum zu Beginn alle Mitglieder einzeln begrüsst. Zum Start der Reihe haben alle Zürcher Mitglieder ein originelles Zusammenhalt-Glühwein-Apéro Set (siehe Bild) erhalten. Die Zürcher und die Berner Sektion führen im Wochenrhythmus abwechslungsweise die Apéros gemeinsam durch. Dies ermöglicht es, mit Mitgliedern aus der anderen Region in Kontakt zu treten, ohne langes Reisen.

Viele Beratungsangebote und Gruppentreffen werden via Internet aufrechterhalten. Und auch Weihnachten musste nicht ohne Höhepunkte verstreichen. Pink Cross organisierte zusammen mit LOS und dem Trans Gender Network Switzerland ein Wichteln, das wildfremde Menschen zusammenbrachte.

Und schliesslich stellten Kulturschaffende pünktlich auf den 24. Dezember ein queeres Weihnachtsmusical für die Community ins Netz! Auch nach Weihnachten eine herzerwärmende Geschichte!

Es ist grossartig, was geleistet wurde und wird, damit schwules Leben weiterhin stattfindet und queere Menschen Kontaktmöglichkeiten erhalten. Allen die sich so fantasievoll und engagiert eingesetzt haben, möchte ich hier ganz herzlich danken. Die erwähnten Beispiele sind nur eine kleine Auswahl, die beweist, dass auch heute ein Bedürfnis nach Community besteht. Orte, an denen man als queere Person so sein kann, wie man ist. Sie zeigen auch, dass es eine queere Kultur gibt, die einem Bedürfnis entspricht, sei dies bei den Kulturschaffenden oder den Menschen, die diese Kultur nutzen.