1961
Noël Bach: Zeitzeuge
... Polizei-Lockvögel schlagen zu
Der zweite Bericht war mit dem Decknamen "Boris" gezeichnet.1 Später lernten wir "Boris" kennen. Er war, wie wir auch, Mitglied des Vereins "NETWORK für schwule Führungskräfte" (in Wirtschaft, Verwaltung, Politik, Kultur) und gab uns 2002 gesprächsweise Einblick in viele Details seiner Geschichte. Dabei ermächtigte er uns auch, seinen richtigen Namen zu nennen. Seine Geschichte begann 1961:
"Während meiner Studienzeit an der Universität Zürich [...] hatte ich eine, wie mir scheint, typische Konfrontation mit den Zürcher Sittenwächtern.
Ich studierte Theologie. Genoss zuvor eine Erziehung zur Tugend, war gegen mich unerbittlich in sittlichen und moralischen Belangen und tat, um im Studium unabhängig vom Staat zu bleiben, für gutes Geld nützliche Arbeit auf der Zürcher Sihlpost. Wohlverstanden, meist nachts! Den Weg vom [...] Seefeld, dort bewohnte ich ein Appartement, unternahm ich abends mit dem Tram, und den Nachhauseweg nach der Arbeit - morgens in der Früh um vier (da verkehren ja bekanntlich noch keine Trams, und ein Taxi war mir zu teuer) - zu Fuss.
An so einem frühen menschenleeren Morgen betrete ich [...] das Pissoir am Bürkliplatz [...]: ich musste mal dringend. Ahnungslos und alleine stehe ich da. Unversehens betreten zwei Männer gleichzeitig den Ort, postieren sich auffällig neben mir, einer links, der andere rechts. Sie schauen mir so unverblümt beim Pissen zu, dass ich konsterniert innehalte und abwarte. Sie mimen ein Interesse an mir, was mich anwidert. Ich gebe meinem Unwillen Ausdruck, indem ich wirsch 'einpacke' und aufs Trottoir hinaustrete. Die beiden folgen mir auf den Fersen und sprechen mich an:
'Wieviel verlangst du? - Stelle dich nicht so an! - Das tust du doch nicht zum ersten Mal! - So Stricher kennen wir doch! - Dafür haben wir ein Auge! - Wo ist dein Ausweis? - Keinen Ausweis? - Aha! - Jetzt aber zur Wache mit dir! - Das werden wir abklären! - Diese Lügen! - Wir können auch handgreiflich werden, wenn du willst! - Deine freche Schnauze stopfen! - So lange wie du, seicht nur einer mit Prostata! - Wäre ja gelacht, so etwas zu glauben!'
Sie fuchteln mit dem Ausweis der Zürcher Sittenpolizei vor meiner Nase. Meine Situation ist grotesk. Unfreiwillig besteige ich ihr [...] Auto. Ich protestiere erfolglos. 'Halt's Maul! So ein Dreckskerl!' [...] In der Eingangshalle sitzen mehrere offenbar auf dieselbe Weise 'eingefangene' Männer [...]. Ich setze mich dazwischen - wie eine Salzsäule - unfähig, mich zu artikulieren. Gedanken über Rechtsstaat, Polizeiwillkür, Persönlichkeitsrechte, Schutz vor polizeilichen Übergriffen kreisen in meinem Kopf. - Ich kann gehen, - ein unfreundlicher Abgang. Gottseidank war ich der, der ich bin [...] - noch einmal davongekommen!
Monate später: Ich komme von einer halbjährigen Abwesenheit nach Zürich zurück. Melde mich ordnungsgemäss auf der Einwohnerkontrolle. Mein Studium beginnt. In den ersten Tagen nach meiner Rückkehr nimmt meine Zimmerwirtin einen Telefonanruf der Kriminalpolizei entgegen: Ich müsse eine bestimmte Telefonnummer anrufen, um einen Termin für meine Vorladung festzulegen, - es wäre dringend! Ich stünde offenbar nicht in der Polizeigunst, war der Kommentar der leicht eingeschüchterten Frau. Immerhin vermochte die Tatsache, dass ich ja Theologie studiere, [...] die aufgekommenen Zweifel an meiner Integrität zu zerstreuen.
Ich gehe zum vereinbarten Termin leichten Herzens aufs Polizeirevier der Kriminalpolizei. Es handle sich um eine Zeugenaussage, um die mich jemand gebeten habe! Nichts tat ich lieber, als dem mir noch Unbekannten den Freundesdienst zu erweisen und ihn womöglich von polizeilichen Verdächtigungen (ungerechtfertigten) zu entlasten. Mit diesem [...] Gedanken stand ich nun da im Büro jenes Mannes, der mich höflichst gebeten hatte, 'mal schnell vorbeizukommen'. Die Begrüssung war sachlich. Ich durfte mich setzen. Nun aber folgten die Hiebe Schlag auf Schlag:
'Wo waren Sie während diesem halben Jahr? Was taten Sie? - Weshalb fuhren Sie weg? - Zeugen? - Wovon leben Sie? - Kennen Sie diese Gesichter?' Er legt Fotos von Männern auf den Tisch. Ich erstarre [...]. Ich komme mir immer fremder vor. Was will man von mir? - 'Antworten Sie doch endlich! Kennen Sie einen oder mehrere von diesen Männern? - Sind Sie homosexuell?' - 'Wer? Ich? - Wieso diese Frage? - Ich wurde unter einem Vorwand hierher gebeten! - Was sollen alle diese Fragen?'
Ich sei registriert. (Bis anhin wusste ich nichts von einem Homoregister) - Ich sei schwul - jedes Abstreiten würde mir nichts nützen. - Man brauche nun von mir noch meine Fingerabdrücke. - Ich bin fassungslos und kann kaum reagieren. Ich werde in einen Nebenraum geführt, wo man mir die Fingerabdrücke nimmt!
Kommentarlos wurde ich entlassen. Ich schlich mich wie ein verwundetes Wild aus dem Polizeigebäude. Aufgewühlt lief ich stundenlang ziellos durch die Stadt. Ekel vor mir selbst trieb mich [...]. Während Monaten finde ich keine Ruhe. Ich wage es nicht, mit jemandem diese Angelegenheit zu besprechen. Ich fühle mich von diesem Staat verfolgt. Meine Depression schlägt um in Wut und mobilisiert mein Selbstwertgefühl. Ich bespreche meine Situation mit einem Rechtsanwalt. Sein Rat: 'Lassen Sie Gras darüber wachsen! Beschwerden führen zu einem Aktenberg. Sie würden ein 'Fall' werden. - Und dann Ihr Studium, Ihre Berufschancen? - Sie geraten in einen Teufelskreis!' (Als ob ich da nicht schon hineingeraten wäre.)
Später: Ich breche das Theologiestudium ab. Ich trage mich über lange Zeit mit Selbstmordgedanken, stehe am Rande einer gescheiterten, sinnlos gewordenen Existenz. Ich unternehme nochmals einen heroischen Versuch - vielleicht hilft mir eine Flucht nach vorne: Man beklagte überall einen akuten Lehrermangel. Nicht in Zürich, sondern in meinem Heimatkanton melde ich mich zur Umschulung für den Lehrerberuf. Man verweigert mir diese Möglichkeit mit dem eindeutigen Hinweis auf meine homosexuelle Veranlagung. 'Woher zum Teufel ...?' Aber die Frage nach der Quelle dieser Information erübrigt sich ja wohl! Schlagartig wird mir nochmals meine ausweglose gesellschaftliche und berufliche Situation bewusst [...]. Meine Familie wird durch den Ortspfarrer (woher weiss es der?) orientiert. Hier erwachsen mir allerdings keine neuen Probleme. Ich werde mitsamt meinem Freund in unserer Grossfamilie - dazu gehören auch nächste Verwandte - integriert, als würde es sich um die natürlichste Sache der Welt handeln!Eine weitere Attacke erfolgt von kirchlicher Seite: Ich werde aufgefordert, einen in Zürich praktizierenden Psychologen aufzusuchen, und zuhanden kirchlicher Behörden ein 'Gutachten' über meine Veranlagung 'erstellen' zu lassen. [Beim Gespräch im Jahr 2002 sagte Noël, ich solle den Namen des Psychologen erwähnen: Dr. Fritz Tanner.] [...] Ich war nun keinesfalls bereit, die mir angebotene therapeutische Behandlung anzunehmen.
Ich durchlief seither einen Bewusstseinsprozess, der mich dahin gebracht hat, mich in so einer Situationen mit rhetorischer Vehemenz zu rechtfertigen. Der Angriff, intellektuell geführt, ist die beste Verteidigung! Wer sich jedoch seiner Haut nicht wehren kann, ist in einer bedauerlichen Situation. Beruflich hat mir meine 'Wehrhaftigkeit' allerdings nichts eingebracht, im Gegenteil.Aber ich habe mir, diesem Homoregister-Eintrag zum Trotz, einen Platz an der Sonne erobert. Dabei half mir ein gutes Mass an Selbstkritik im privaten wie beruflichen Bereich. Heulen und Wehklagen über unseren negativen gesellschaftlichen Stellenwert helfen uns nicht weiter. Das Homo-Bild, das die Gegenseite von uns hat, können wir nur korrigieren, wenn wir eine bessere Selbstdarstellung betreiben. Schwulsein ist nicht bloss 'Zustand', es ist eine Herausforderung an uns."
Ernst Ostertag, November 2005, Februar 2021
Weiterführende Links intern
Noël Bach, ein Opfer vor 60 Jahren, Newsletter 135, März 2021
Quellenverweise
- 1
hey, Nr. 9/1978, Seite 12