1961-1969

Repressions-Routine

Im Dezember 1961 ereignete sich ein dritter Mordfall an einem Homosexuellen.

Die Antwort der Polizei war eine neue Grossrazzia nur zwei Tage nach der Tat. Razzien schienen das probate Mittel, um Tätigkeit der Behörden zu demonstrieren. Eine Aufklärung dieses Mordes gelang nie.

Die Lage für den geschwächten KREIS war schwierig, das Echo in der Zeitschrift tönte resigniert. Karl Meier / Rolf fragte, wo sich nun jene Intellektuellen verborgen halten, die früher als nichtbetroffene Heterosexuelle gelegentlich mit aufklärenden Verlautbarungen in die Öffentlichkeit traten. Die allgemeine Diffamierung aller Homosexuellen hatte wohl auch diese Stimmen zum Verstummen gebracht. Doch unterkriegen lassen wollte sich Karl Meier nicht, und so berichtete er von einem Informationstreffen zum Thema Strichjungentum, an dem er zusammen mit seinem Lebensgefährten teilnahm, um seine Sichtweise zu erläutern. Dabei habe er sich offen als Homosexueller zu erkennen gegeben. Allerdings, ausser ihnen beiden sei kein anderer Betroffener im Saal gewesen. Nach dem neuen Mordfall gab es anonyme Drohungen, es werde jede Veranstaltung im KREIS-Lokal am Neumarkt ab sofort massiv gestört. Es war nichts anderes möglich, als die bereits angekündigte Weihnachtsfeier und die Treffen an Silvester/Neujahr zu annulieren. Damit scheiterte auch dieser letzte Versuch eines Auflebenlassens der langjährigen Tradition.

Den zahllosen Repressions-Opfern blieb nur das Schweigen. Verunsicherung und Scham sassen zu tief. Erst 1978, siebzehn bis achtzehn Jahre später, machten sich einige daran, ihre Erlebnisse für die Zeitschrift hey niederzuschreiben. Es sind erschütternde, teilweise empörende Berichte, die auch aufzeigen, wie anhaltend diese Menschen verletzt und geprägt worden sind.

Ein ganz dunkles Kapitel sind die knappen Angaben über Kastrationen an "unheilbaren" Homosexuellen und vor allem jene wenigen Stellen, wo die Überredungen zu dieser "Massnahme" und die Probleme des Verstümmelten danach geschildert werden. Diese unmenschliche Praxis wurde bis in die 70er Jahre des letzten Jahrhunderts ausgeübt. Und ein Aufarbeiten der wissenschaftlich nie exakt untersuchten oder gar bewiesenen "Heilungsmethoden" bringt Unfassbares zutage. Bevor die deutschen Nazis ihr den Rang abnahmen, galt die Schweiz auf diesem Feld der Medizin, Chirurgie und Psychiatrie als führend. Zeugenaussagen zeichnen (mit einer Ausnahme) düstere Bilder der Hoffnungslosigkeit.

Einziger Ausweg war - leider zu oft - der Freitod. Wir beide, Röbi Rapp und vor allem Ernst Ostertag, begleiteten gelegentlich solche "Fälle". Denn was wir erlebten, war tatsächlich ein Fallen, ein sich Fallenlassen, weil keine andere Option mehr vorhanden und jede Kraft zum Weitergehen erloschen war. Im KREIS gab es was man heute ein Care-Team nennen würde, eine kleine Gruppe von Nothelfern, deren Einsatz im Begleiten eines Kameraden über längere Zeit bestand. Das Wissen um einen stets möglichen Freitod lief dabei wie ein Schatten immer mit.

Karl Meier / Rolf setzte gelegentlich die Nachricht vom Suizid eines Kameraden ins Kleine Blatt, das dem Kreis-Heft jedes Abonnenten beilag. Manchmal fügte er einen kurzen Nekrolog hinzu. Einmal, 1948 veröffentlichte er den letzten Eintrag eines Tagebuchs unter dem Titel "Abschied". Dieses Zeugnis eines jungen Mannes, der nur noch den finalen Ausweg sehen kann, ist ein ebenso gültig wie ergreifend geschildertes zeitloses Dokument. Deshalb brachte Karl Meier denselben Text ein zweites Mal in der April-Ausgabe 1957, nun zusammen mit der Schilderung, wie das Tagebuch in seine Hände kam.

Unter dem Titel "Zum Thema Repression" berichtet das zweitletzte Kapitel von einem erneuten Mordfall und zwei besonders signifikanten Reaktionen. Einerseits vom dezidierten Ruf nach verstärkter Repression, verbunden mit dem politischen Vorstoss für eine verschärfte Anwendung der Gesetze, um die homosexuelle "Kloake" auszutrocknen, andererseits von einer Interview-Serie in der Zeitung Zürcher Woche, worin erstmals ein Vertreter der Homosexuellen zur Stellungnahme gebeten wurde und dies gleich zweimal tun konnte.

"Diffamierungs-Widerstand" ist der Titel des letzten Kapitels. Es handelt vom selben Jahr 1969, in dem der Stonewall-Aufstand in New York die aktive Schwulen- und Lesbenbefreiung einläutete und der offene weltweite Kampf für gleiche Rechte begann. In Zürich geschah ein neuer Mord, ausgeführt durch zwei Strichjungen. Und eine gewisse Presse reagierte genau so diffamierend wie 1957/1958. Doch nun, elf Jahre später, regte sich offener Widerstand. Er war erfolgreich. Denn in einer öffentlichen Versammlung, an der Massnahmen zur Verschärfung der Repression hätten diskutiert werden sollen, gab es eine ganze Gruppe von aktiven Schwulen, die mit eigenen Voten in die Diskussion eingriffen und mutig ein gemeinsames Coming Out wagten. Damit kippte die Stimmung unter den Anwesenden und die geplante Resolution kam nicht zustande. Diese unverhoffte Wirkung zeigte deutlich, dass Widerstand sich lohnte, wenn man mit klaren Argumenten in die Öffentlichkeit trat. Es war ein Schlüsselerlebnis und es wies den Weg zum Aufbruch.

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Ernst Ostertag, April 2012