Newsletter 136

April 2021

Diese Ausgabe enthält folgende Themen:

  • Eine Epidemie unter Schwulen
  • Neue Erkenntnisse zu Noël Bach - Nachtrag
  • René Hubert: Ausstellung in Zürich bis Juni 2021

Eine Epidemie unter Schwulen

eos. Zu Beginn der 1960er-Jahre, mitten in der Repression, begann sich ein altbekannter Erreger neu und fast ausschliesslich in der Schwulen-Community auszubreiten. Zehn Jahre zuvor gingen die Einschränkungen des Krieges zu Ende und mit der langsam einsetzenden Konjunktur stiegen die Verdienste. Alle konnten sich etwas mehr leisten. Vor allem Unverheiratete waren die ersten, die sich Ferien im Ausland gönnten. Schwule zog es nach Amsterdam und Kopenhagen, wo es Tanzlokale und Saunas nur für ihresgleichen gab und an Kiosken Heftchen mit Aktbildern, einschlägigen Inseraten und Freundschaftsanzeigen aushingen. Alles Dinge weit jenseits dessen, was in der Schweiz möglich war.

Diese beiden Ferienziele waren Hafenstädte. Damals galten Matrosen mehrheitlich als homosexuell, und für Schwule hatten junge Matrosen sozusagen Kultstatus. Fotos, Zeichnungen und Gemälde wurden gesammelt. Im Verborgenen las man den nur unter der Hand erhältlichen Roman des Matrosen "Querelle de Brest" von Jean Genet. Über die Meere kamen auch jene Erreger. Dies schon im 17. Jahrhundert mit den Entdeckern und Eroberern. Und jetzt fanden sie wieder ahnungsloses Frischfleisch. Es war die Syphilis.

1961 stellten Ärzte in den Städten Basel und Zürich eine steigende Zahl von Erkrankten fest, alles junge homosexuelle Männer. Zeitungen berichteten. Man musste die Ansteckungen eindämmen, bevor die Seuche auf die Bevölkerungsmehrheit überspringen konnte. Zürich tat es mit Razzien und Polizeigewalt. Basel ging einen anderen Weg.

In seiner Ausgabe vom April 1961 - also vor genau 60 Jahren - gab die Zeitschrift Der Kreis auf ihren Umschlagseiten eine "Ausserordentliche Versammlung!" bekannt, die am "Samstag, den 29. April, 20-24 Uhr im alten Klublokal" stattfinde. Das "alte Klublokal" war die "Eintracht", heute das Theater am Neumarkt. Der KREIS betrieb es noch regulär bis Ende 1961. Danach musste es aufgegeben werden, weil das 1960 vom Zürcher Stadtrat verordnete Tanzverbot die Besucherzahlen fast total einbrechen liess. Zu den Traktanden dieser Ausserordentlichen Versammlung gehörte vor allem ein "Bericht über die Aktion 'S' in Basel. Anschliessend Diskussion und Kurzreferat eines Facharztes aus Zürich". Durch die Ankündigung eines "Facharztes" wusste jeder Abonnent sofort, dass mit "Aktion S" die Syphilis gemeint war. Der Andrang war entsprechend gross.

Denn wer keinen Vertrauensarzt hatte, einen, der selber schwul war oder kein Problem darin sah, ging niemals zu einem Bluttest, weil man inzwischen wusste, dass positive Ergebnisse an die Behörde gemeldet wurden. Ob das mit oder ohne Namenangabe geschah, war unklar. Und wer hätte sich danach erkundigen wollen? Als Homosexueller amtlich gemeldet zu sein, bedeutete damals grosse Gefahr für die eigene Existenz oder das Dach über dem Kopf, denn auch Verträge von Mietwohnungen waren gekündigt worden, wenn "es" auskam. Man ging also an diese Versammlung in der Hoffnung zu erfahren, wie auf sichere Weise ein Test gemacht werden konnte. Man wollte wissen, wie festgestellt wird, ob man noch gesund ist und was im anderen Fall unternommen werden kann - unter Wahren der Anonymität.

Diese Hoffnung wurde nicht enttäuscht. Karl Meier / Rolf gab die Adresse des KREIS-Vertrauensarztes in Zürich bekannt. Man müsse nur "Rolf" oder "Kreis" sagen, dann bleibe die Anonymität beim Test wie bei einer eventuell nötigen Behandlung gewahrt. Für Abonnenten ausserhalb Zürichs verwies er auf eine Beilage im Mai-Heft.

Im Mai-Heft, auf der zweiten Umschlagseite, publizierte er unter seinem Klub-Namen "Rolf" einen Versammlungs-Bericht. Darin hiess es, dass dieses Zusammentreffen

"gewiss manchem Kameraden die Augen geöffnet hat […]. Wir mussten uns überzeugen lassen, dass eine Infizierung […] auch unverschuldet möglich ist, […] dass beispielsweise das Penicillin in seiner sonst erfreulichen raschen Wirkung bereits nachgelassen hat, […] dass alle diese Erfahrungen es notwendig machen, dass jeder Mann, vor allem jeder homosexuell sich entspannende Mann von Zeit zu Zeit sich einer Blutprobe unterzieht, damit der Arzt rechtzeitig helfen kann. Welche verheerenden Wirkungen durch eine Verschleppung der Krankheit möglich sind, zeigt ein gegenwärtig in der Schweiz laufender Film 'Schleichendes Gift'. Vor diesen gezeigten Zerstörungen des Körpers […] macht es jedem von uns zur Pflicht, das Seine beizutragen, dass der Herd der Krankheit lokalisiert und die Weitertragung unterbunden werden kann. […] Wie das und durch wen das am besten geschehen kann, wird ein Rundschreiben zeigen, das alle schweizerischen Abonnenten erhalten. […]"

Dieses Rundschreiben war demselben Mai-Heft beigelegt, zusammen mit dem Kleinen Blatt. Es orientierte über die Art und den Verlauf der Krankheit, wie eine Infektion festgestellt werden kann und wie die Behandlung durch den Arzt aussieht (Ausser Penicillin-Injektionen gab es damals nichts). Die Informationen stammten vom Vorsteher der Dermatologischen Universitätsklinik Basel, Professor Dr. R. Schuppli. Vertrauensärzte des KREIS in diversen Regionen der Schweiz waren aufgelistet. Besonders wichtig war eine ebenfalls beigelegte Karte, die jeder Abonnent beim Vertrauensarzt vorweisen konnte, um anonym zu bleiben. So gelang es zumindest die Abonnenten und die Mit-Leser des Kreis aufzuklären und zu schützen.

Das Ganze war in ihrer Art eine aussergewöhnliche und einmalige Aktion. Ein relativ kleiner Lesezirkel mit klandestinem Dasein versuchte seine Mitglieder vor der Ausbreitung einer allgemein bekannten Epidemie zu schützen, die fast nur diese Mitglieder traf. Und sie traf diese Menschen genau wegen des einen Merkmals, das sie von der Mehrheit unterschied und das durch diese Mehrheit stigmatisiert wurde, ihrem sexuellen Verhalten. Es brauchte Mut für diese Aktion. Sie gelang recht gut. Doch besonders gut gelang sie an jenem Ort des Landes, wo die Zusammenarbeit der Betroffenen mit den zuständigen öffentlichen Experten im Gesundheitswesen möglich war und sich etablieren konnte, in Basel.

Neue Erkenntnisse zu Noël Bach - Nachtrag zum letzten Newsletter

eos. Der Newsletter 135 war unter anderem Noël Bach gewidmet, der vor 60 Jahren Opfer von Polizeiwillkür in der Stadt Zürich wurde. Daraufhin meldete sich der Historiker Beat Frischknecht, Sekretär des Vereins Schwulenarchiv, mit neuen Erkenntnissen: Noël Bach war der Künstlername von Theodor Rohrbach. Er benutzte ihn offensichtlich immer, ausser in amtlichen Dingen und auf amtlichen Dokumenten. Rohrbach wurde 1936 im solothurnischen Lüterkofen geboren. Er und sein langjähriger Lebenspartner Walter R. Lutz starben 2018 nur zwei Wochen nacheinander. Ihr Gemeinschaftsgrab befindet sich auf dem Friedhof Hönggerberg in Zürich.

schwulengeschichte.ch wird seine Geschichte weiter recherchieren und als Biografie publizieren.

Newsletter 135 - Noël Bach, ein Opfer vor 60 Jahren

René Hubert: Ausstellung in Zürich bis Juni 2021

hpw. In rund 180 Filmen trugen die Stars seine Kostüme. Er wurde zwei Mal für den Oscar nominiert. Für Marlene Dietrich entwarf er u.a. einen Blaufuchs-Mantel. Dem Kostüm-Kreateur René Hubert ist im Museum für Gestaltung im Toni-Areal Zürich eine Ausstellung gewidmet. Sie dauert bis zum 20. Juni 2021.

René Hubert: Unser Mann in Hollywood - Biografie auf schwulengeschichte.ch

Ausstellungs-Webseite des Museums für Gestaltung