Newsletter 138

Juni 2021

Diese Ausgabe enthält folgende Themen:

  • Juni, Monat des CSD und der Pride
  • Queer - Vielfalt ist unsere Natur

Juni, Monat des CSD und der Pride

eos. Vor zwei Jahren feierten Regenbogenmenschen weltweit 50 Jahre seit dem Stonewall-Aufstand in der New Yorker Christopher Street, also 50 Jahre Gay Liberation. Letztes Jahr gab es keine bunten Demo-Umzüge wegen der Pandemie und in diesem Jahr wird es wiederum still bleiben. - Sehen wir nach, was vor 20 Jahren geschah, denn 2001 war aussergewöhnlich.

Am 23. Juni stand der CSD in Zürich unter dem Motto "Work together - Diskriminierung am Arbeitsplatz". Sofort denken wir, was hat sich seither verändert, verbessert? Diversity war noch fast unbekannt und ein Swiss LGBTI-Label jenseits unserer Träume. Auch ein Gesetz gegen Diskriminierung von Homosexuellen gab es nicht. Vieles ist anders geworden. Übergriffe werden nicht mehr beschwiegen, sie kommen ins Licht der Medien und lösen Diskussionen aus. Eigentlich müsste es weniger solcher Taten geben seit das Anti-Diskriminierungs-Gesetz 2020 vom Volk angenommen wurde. Doch wir alle wissen, dass dem nicht so ist, dass es Diskriminierung weiterhin gibt, nicht nur in der Arbeitswelt. Und Übergriffe, verbal wie handgreiflich, geschehen öfter und heftiger als vor zwanzig Jahren. Böse Taten bleiben noch immer ungemeldet, weil Opfer sich nicht getrauen und weil die Taten zumeist (noch) nicht statistisch erfasst werden. "Work together!" Dieses Motto hat nichts an Aktualität verloren.

Damals war es das eine, prägende Wort des CSD-Tages. Das andere, alles überstrahlende Geschehen, desselben Tages war die Anwesenheit und Ansprache unseres Bundespräsidenten als weltweit erstem Staatsoberhaupt an einem schwul-lesbischen Grossanlass. So etwas gab es bis heute nie mehr.

Für den 7./8. Juli war die Pride geplant. Sie fand als "Lesbian & Gay Pride" 1997 erstmals in Genf statt und war in der Romandie als Gegenstück zum CSD der Deutschschweiz neu ins Leben gerufen worden. Zudem galt ein Turnus, wonach sie jedes Jahr in einer anderen Kantonshauptstadt Gastrecht haben soll. 1998 war die Reihe an Lausanne, 1999 kam Fribourg zum Zug, 2000 Bern/Berne als Bundesstadt und für 2001 war Sion vorgesehen. Da war man echt gespannt: Wie wird das konservative, erzkatholische Wallis reagieren? Seit 1994 gab es hauptsächlich im Unterwallis eine kleine, aber aktive lesbisch-schwule Gruppe. Sie nannte sich Alpagai und hatte eine mutige Präsidentin, Marianne Bruchez. Es war an ihr, den Anlass zu organisieren. Eine gewaltige Herausforderung. Denn kaum war das Walliser Projekt bekanntgemacht, brach eine Welle totaler Ablehnung los. Der Bischof von Sion mit seinen Anhängern führte sie in allen ihm zugänglichen Medien an, orchestriert von der frommen Bruderschaft St. Pius X aus ihrem Sitz im nahen Ecône. Doch wie immer, schrille Opposition schafft weitreichende Publicity. Die Sion-Pride wurde Diskussionsthema im ganzen Land und bei allen Organisationen der Community hiess die Losung: "Auf ins Wallis, Pilgerpflicht!"

Ich erinnere mich lebhaft an zwei Episoden dieser Pride. Kurz vor Beginn des Demo-Umzugs, als laufend mehr und mehr Menschen aus jedem eintreffenden Bahnzug stiegen und die versammelte Menge riesig wurde, sagte ich zu Röbi und Brian, einem englischen Freund, der uns begleitete, wir könnten doch rasch zur Hauptkirche gehen, denn ich hatte vernommen, dass sich dort unsere Gegner treffen. Tatsächlich sahen wir vor dem Eingangstor gut fünfzig Menschen mit Transparenten und davor einige Priester, murmelnd. Auf einen Wink des anführenden Geistlichen fielen alle laut ins Gebet ein, knieten nieder und legten die Transparente auf den Boden. Wir standen seitwärts daneben und schauten zu, beeindruckt. Dann gingen wir zurück und sagten zueinander: "Es ist doch wie ein Wunder, vor wenigen hundert Jahren haben uns Leute wie diese verfolgt, eingekerkert, gefoltert, auf Scheiterhaufen geworfen und lebendig verbrannt. Und jetzt stehen sie da und beten nur noch - immerhin - ein Fortschritt."

Der Verein Network hatte für jedes angemeldete Mitglied ein kleines Transparent auf farbigen Karton drucken lassen. Dies schon für den Zürcher CSD. Zweisprachig war dort der Beruf angegeben. Bei mir hiess es "Ich bin auch ein… Lehrer" bzw. "un…Instituteur". Brian, mit demselben Beruf in Nordengland, hatte den gleichen Text auf anders farbigem Karton. Im Demo-Zug gingen wir alle drei nebeneinander. Einmal wurden wir von einem Balkon mit Eiern beworfen, aber sonst applaudierten die meisten der dichtgedrängten Menschen am Strassenrand. In den Gassen des Zentrums hob ein Mann die Arme hoch und zeigte auf uns. Es war ein alter Mann mit verhärmtem Gesicht. Er deutete auf die Kartons von Brian und mir und dann auf sich. Offenbar ein Berufskollege. Wie wir ihm fröhlich zuwinkten, brach er in Tränen aus, kehrte sich um und verschwand in der Menge. Ein Bild, ein Leben bergend, unvergesslich.

Queer - Vielfalt ist unsere Natur

dbr. Im Naturhistorischen Museum in Bern ist zurzeit die Ausstellung "Queer - Vielfalt ist unsere Natur" zu sehen. Sie zeigt, dass Vielfalt in der Natur angelegt sei, und widerlegt die Auffassung, dass die Welt Schwarz-Weiss ist, respektive nur aus den Gegenpolen Mann und Frau bestehe. Auch wenn Diversität manchmal verwirrlich sein kann, so eröffnet sie doch so viel mehr Möglichkeiten, wie Menschen und Tiere leben können, dass es sich unbedingt lohnt, sich darauf einzulassen. Die Ausstellung hilft dabei, sich zurechtzufinden. Der Autor dieses Newsletter-Beitrags findet auch einen unerwarteten Link zu einem Vorkommnis der jüngeren Geschichte, worüber auf der Website schwulengeschichte.ch demnächst zu lesen sein wird.

Die Ausstellung im Naturhistorischen Museum Bern ist farbenfroh, vielfältig und didaktisch sehr gut aufgebaut. Sie beginnt mit einem Ausflug ins Tierreich. Die schwulen Pinguine sind ja inzwischen bekannt, aber dass der Clownfisch Nemo trans ist, war mir neu. Die Buchstabenfolge LGBTIQ+ mag die Diversität bei uns Menschen abbilden, bei gewissen Tierarten würde sie noch bedeutend länger ausfallen. Es gibt nämlich solche, die Tausende von Geschlechtern aufweisen.

In der Ausstellung erfahren wir einiges über Geschlechtsidentität, sexuelle Orientierung gesellschaftliche Zuweisung und berühmte Vorbilder. In Bereichen der Ausstellung, in denen eher persönliche Aussagen sichtbar werden oder eine eigene Auseinandersetzung mit den Themen angeregt wird, stehen den Besucher*innen geschützte Nischen als Rückzugsmöglichkeiten zur Verfügung. Die Aufforderung zu Beginn, dass man achtsam mit anderen Besucher*innen umgehen soll, wurde von den Menschen, die während meines Besuches anwesend waren, auf angenehme Weise respektiert.

Besucher*innen erhalten zu Beginn ein Heft mit auf den Weg, das immer wieder dazu animiert, über sich nachzudenken und eigene persönliche Antworten zu suchen. Es eignet sich für Jugendliche, die die Ausstellung im Klassenverband besuchen, spricht aber auch Erwachsene an. Es regt an, sich an diversen Stationen zu den Themen zu äussern und eigene Aussagen zu hinterlassen.  Am Schluss der Ausstellung können Wünsche an die Gesellschaft von morgen platziert werden. Bereits ist eine schöne Sammlung zusammengekommen, die zeigt, dass es der Ausstellung gelingt, bei Menschen Geist und Herz zu öffnen für eine diverse Gesellschaft.

Bei meinem Besuch habe ich neben einer welschen Schulklasse, älteren Paaren und Müttern mit Kindern auch zwei junge (schwule?) Männer gesehen, die mit ihren Müttern im Museum waren.  Jetzt bin ich mir zwar nicht mehr sicher, ob ich hier "Männer" schreiben soll oder ob es richtigerweise "Personen" heissen müsste. Denn was die Ausstellung eindrücklich vermittelt, ist dies: Mann und Frau sind zwei Pole eines Spektrums, zwischen denen so ziemlich alles existiert, was man sich vorstellen kann und noch vieles, das zumindest meine Fantasie weit übersteigt. Sie lehrt, dass von aussen nicht sichtbar ist, als was sich jemand selbst fühlt. Hetero, Schwul, Lesbisch, Bi oder Trans sind Kategorien, die längst nicht auf alle Menschen zutreffen und die Nuancen, die jemand bei sich selbst spürt, nur ungenügend abbilden. Kurze Interviews mit verschiedenen Personen, die ich mir in Ruhe auf einem Tablet anschauen konnte, machten mir deutlich, dass es sich lohnt, einer Person zuzuhören, wie sie sich selbst beschreibt, anstatt sofort nach der vermeintlich passenden Kategorie zu suchen, in die man sie stecken kann. Das wissen wir natürlich schon lange, aber Hand aufs Herz, wer tappt nicht immer wieder mal in diese Falle?

Minderheiten sind nicht zu vergleichen

Die Ausstellung vermittelt sehr viele Fakten, einige davon stammen von schwulengeschichte.ch, was auch vermerkt wird. Ich fand auch einen weiteren Bezug zu unserem Projekt. Vor kurzem habe ich nämlich angefangen, die Geschichte von "Pink Apple, schwullesbisches+ Filmfestival" aufzuschreiben. Als einer der Gründer erinnere ich mich, dass wir 1998, dem ersten Jahr des Festivals, in einer Pressemitteilung darauf hinwiesen, dass es im Kanton Thurgau mehr Schwule und Lesben gebe als landwirtschaftliche Angestellte. Der Satz schlug damals ziemlich ein und wurde in den Medien Jahr für Jahr wiederholt, bis sich der Thurgauer Bauernverband in einem Forumsbeitrag in der Thurgauer Zeitung vom 26. April 2001 über diesen "unhaltbaren Vergleich" beschwerte. Der Verband teilte mit, dass sich viele Bäuerinnen und Bauern über diesen Vergleich empört hätten, insbesondere über den Zusatz:

"Im Gegensatz zu den Bauern treten Schwule und Lesben hierzulande kaum in Erscheinung."

Der Bauernverband fügte an:

"Zurzeit findet eine Gesetzesüberprüfung über die Benachteiligung gleichgeschlechtlicher Paare statt. Wenn jedoch solche Vergleiche herangezogen würden, werden das Verständnis und die Toleranz gegenüber diesen Lebensformen nicht gefördert. Der Thurgauer Bauernverband wünscht dem "Pink Apple" viel Erfolg."

Für die damalige Zeit war der Forumsbeitrag ausgesprochen nett.  Wir antworteten mit einem artigen Brief. Es läge uns fern, die eine Minderheit gegen die andere auszuspielen. Wir seien uns nur nicht wirklich bewusst gewesen, dass die Bauern sich selbst so stark als Minderheit empfanden.

An diese Geschichte musste ich denken, als ich in der Ausstellung auf Infotafeln mit Vergleichen stiess. Vergleiche helfen, Fakten einzuordnen. Sie sagen aber wenig aus über die Stellung oder das Selbstbild der einzelnen Gruppen oder Personen. Bei diesen Tafeln geht es wohl darum, zu zeigen, dass es hier um ganz schön Viele geht.

Diese Quantifizierungen können Gedanken anregen. Sie helfen den Minderheiten aber wenig dabei, Akzeptanz zu finden. Eine Gruppe muss nicht gross genug sein, damit sie das Recht auf einen Platz in der Gesellschaft hat. Es reicht, dass sie da ist. Und mit den Vergleichen riskiert man, siehe Bauernverband, dass sich die eine Minderheit gegen die andere ausgespielt fühlt.

Die Idee, die die Ausstellung hauptsächlich vermittelt, dass nämlich zwischen zwei Polen ein riesiges, farbiges Spektrum vorhanden ist, in dem jede*r sich selbst definieren darf und den passenden Platz finden kann, scheint mir hilfreicher. Wenn alle akzeptiert werden, braucht es keinen besonderen Artenschutz. Beispiele aus dem Tierreich zeigen, dass es immer Gründe gab, warum sich Arten entwickelten, die etwa andere Fortpflanzungsformen "erfanden" oder ihr Geschlecht wechseln konnten. Natürlich bestand immer das Ziel, den Fortbestand zu sichern, aber oft genug ging es auch darum, dass es einfach Spass machen sollte.

Die Ausstellung "Queer - Vielfalt ist unsere Natur" dauert noch bis zum 10. April 2022.

Infos auf www.nmbe.ch.