Newsletter 144
Dezember 2021
Diese Ausgabe enthält folgende Themen:
- Es geschah vor 90 Jahren - Rückblicke
Es geschah vor 90 Jahren - Rückblicke
eos. Am 26. September wurde mit der Ehe für alle etwas erreicht, das seit dem Stonewall-Aufstand von Ende Juni 1969 stets als Fernziel der Gay Liberation galt: Gleiche Rechte. Der damalige Aufstand richtete sich gegen die Ächtung im Denken der Bevölkerungsmehrheit und die sich daraus ergebende und geduldete Polizeigewalt. Gleiche Regeln des Zusammenseins zweier Liebenden sind das Symbol für Akzeptanz und Rechtsgleichheit. Auch darum ging es von Anfang an. Allerdings, in der Schweiz begann die Befreiungsbewegung früher und - für uns typisch - nicht mit einem Paukenschlag, sondern fast verborgen und sehr langsam.
Es geschah vor 90 Jahren, 1931. In der Herbstsession des Ständerats stand das neue eidgenössische Strafgesetzbuch (StGB) zur Diskussion, das heisst einer der umstrittenen Punkte: der Art. 169 über Bestrafung oder Freigabe homosexueller Handlungen unter Erwachsenen. Man war sich einig, die "Volksauffassung" würde solche Handlungen noch lange ächten, auch wenn die gesellschaftlichen Veränderungen und wissenschaftlichen Erkenntnisse für eine Entkriminalisierung sprachen. Ein modernes Strafrecht sollte das berücksichtigen. Dagegen gab es Widerstände. Die gleichen oder ähnlichen Begründungen wurden vorgebracht, wie wir sie erneut im Abstimmungskampf dieses Sommers hören und lesen konnten. Ein Votum des damaligen Bundespräsidenten und Justizministers Heinrich Häberlin (FDP, TG) fasste die Gegensätze zusammen, wies in eine juristisch korrekte Richtung und zu einem Kompromiss, indem er die aus Deutschland stammenden unerwünschten homosexuellen Propaganda-Publikationen erwähnte. Seine Aussage ist für die Lage der schweizerischen Homosexuellen jener Zeit signifikant:
"Wenn auch die Strafe diesen armen Leuten weggenommen wird, so bleibt nach unserer Volksauffassung die gesellschaftliche Ächtung ja doch auf ihnen lasten. Es bekennt sich kein einziger offen zu dem, was wir als Laster betrachten. Oder haben Sie schon jemand gesehen in der Schweiz offen auftreten und sagen, ich bin homosexuell? Sie werden mir keinen einzigen Menschen nennen können."
"[…] Sobald der Staat anerkennt, dass sie keine Verbrecher sind und sobald er sie nicht vor Gericht zieht, haben sie keine Berechtigung mehr, diese [deutsche] Literatur weiter […] zu vertreiben."
Der Ständerat entschied mit 18 gegen 15 Stimmen; der Nationalrat hatte bereits 1929 mit 73 gegen 47 abgestimmt. 1938 kam das ganze StGB vors Volk und wurde knapp mit 358'000 gegen 312'000 angenommen. Am 1. Januar 1942 trat es in Kraft, womit - mitten im Krieg - die Schweiz in Bezug auf Homosexuelle das liberalste Gesetz zumindest aller deutschsprachigen Gebiete Europas hatte, allerdings mit der Vorgabe, dass sie sich still und unsichtbar verhalten.
Die Welt gehört uns doch
Ebenfalls vor 90 Jahren traten einige Frauen in Zürich zusammen und gründeten am 6. August 1931 den Damen-Club Amicitia. Zunächst waren auch einige Heterosexuelle dabei, doch zogen sie sich bald zurück. So blieben die Lesben unter sich und liessen ab 1932 auch Schwule zu. Gemeinsam gaben sie ein Bulletin heraus, das sie Freundschafts-Banner nannten. Ihr Motto lautete "Durch Licht zur Freiheit. Durch Kampf zum Sieg." Im zürcherischen Strafrecht wurden unter dem Begriff "Homosexuelle" nur Männer verstanden, Handlungen waren strafbar. Ein Damen-Club galt nicht als verdächtig. Dabei sagte sowohl der Name des Bulletins wie das Motto klar: Es geht um Aufklärung und Kampf und der Sieg hiess ein Leben in Freiheit. Eine der Frauen verfasste ein "Bundeslied" in dem es hiess "wir lieben nur das Gleiche, wie die Natur uns schuf" und "bis unser Schaffen, Streben zum Freundschaftsglück uns führt", dann schloss es euphorisch "die Freundschaft soll nichts trüben, die Welt gehört uns doch." Das wurde zur selben Zeit gesagt und gesungen, als der Bundespräsident davon sprach, es würde keiner in der Schweiz aufstehen und offen bekennen, er sei homosexuell.
Mit Amicitia wurde eine Entwicklung angestossen, die uns schliesslich zum heutigen Stand des Freiseins und des "Freundschaftsglücks" geführt hat. Die beiden an diesem Anfang stehenden Frauen waren Anna Vock (1885-1962) und Laura Thoma (1901-1966), die sich "Fredy" nannte. Ihnen stellte sich ab 1932 August Bambula (1899-1985) zur Seite und ab 1934 Karl Meier (1897-1974), der später unter dem Namen "Rolf" zum Gründer und Leiter des KREIS wurde. Diese vier sind Pioniere unserer nationalen Befreiungsbewegung. Sie startete 38 Jahre vor Stonewall. Dennoch, wir als Nation sind keine Pioniere der Befreiung, das wissen alle, wir sind die zweitletzten der Westeuropäer. Warum?
Der Bundespräsident von 1931 sagte es: "So bleibt nach unserer Volksauffassung die gesellschaftliche Ächtung ja doch auf ihnen lasten." Es ist die "Volksauffassung", die in unserer direkten Demokratie Gesetzesänderungen bestimmt. Das wussten die Frauen der Amicitia, auch wenn Laura Thoma ihr Bundeslied mit der klaren Feststellung schloss:"die Welt gehört uns doch". Bis die Welt aber wirklich auch uns gehört, muss eine grundsätzliche Änderung in den Köpfen der Volksmehrheit stattgefunden haben. Der lange Marsch hatte begonnen; er dauerte 90 Jahre.
Offen auftreten und sagen: Ich bin homosexuell
1978 war nach 47 Jahren eine wichtige Wegmarke erreicht. In jenem Sommer gingen erstmals Lesben und Schwule auf die Strasse und forderten in aller Öffentlichkeit die Abschaffung der Homo-Register. Solche Register wurden in den Jahren der Repression von 1958 bis 1968 mittels Razzien und Wohnungsdurchsuchungen massiv ausgebaut. Lokale Polizeikorps tätigten dieses Vorgehen, gedeckt durch die Behörden, in fast allen grossen Städten des Landes. Dabei lag die gesetzliche Grundlage dazu im Graubereich. Viele der Registrierten waren unbescholten. Mit dem Schritt der Homosexuellen an die Öffentlichkeit erkannten viele Bürger das Unrecht. In den folgenden Jahren gelang die Abschaffung dieser Register und das öffentliche Eingeständnis, dass sie kriminalpolizeilich sinnlos waren. Nun folgten die alljährlichen CSD- oder Pride-Demonstrationszüge, mit denen sich Homosexuelle sichtbar machten und als Mitbürger wahrgenommen wurden.
Minderheiten brauchen Verständnis für andere Mnderheiten
Der Einbruch von Aids ab 1982 schien alles Erreichte zu zerstören. Beispiele dafür gab es in den USA und bald auch bei unseren Nachbarstaaten. Dank der starken Homosexuellen-Organisationen konnte eine Zusammenarbeit mit den Gesundheitsbehörden sowohl national wie kantonal aufgebaut werden. Aufklärung, Prävention und Solidarität bewirkten das offene Gespräch über Sexualität in jeder Familie, den vernünftigen Umgang mit Erkrankten statt deren Ausgrenzung und das Verhindern einer Epidemie. Dass die hauptsächlich betroffenen Homosexuellen diese erfolgreiche Strategie wesentlich mitgetragen haben, blieb in der "Volksauffassung" haften und veränderte sie. Die Revision des StGB von 1992, als die Diagnose Aids immer noch ein Todesurteil war, brachte die strafgesetzliche Gleichstellung der Homosexuellen. Die Volksabstimmung ergab eine Mehrheit von 73 Prozent. Damit war der Weg frei. Es dauerte nochmals 29 Jahre bis zur Ehe für alle, die von fast zwei Dritteln der Abstimmenden angenommen wurde. Ein Drittel der Bevölkerung blieb weiterhin skeptisch bis ablehnend.
Es gehört zu unserer direkten Demokratie, dass wir nicht die Konfrontation suchen, sondern den Konsens leben. Wir wissen, wie es sich anfühlt, Minderheit zu sein. Mitbürger, die uns ablehnen, haben wir nicht abzulehnen. Wir haben sie zu respektieren. Wir sind nun in der Mitte angekommen. Das verlangt von uns nicht Ablehnung oder gar Hass, sondern menschliche Grösse, also Verständnis für andere Minderheiten.