Newsletter 161

Mai 2023

Diese Ausgabe enthält die folgenden Themen:

  • Vom Spinatstecher zur Agitationsschwuchtel
  • Bücherverbrennungen vor 90 Jahren
  • Generalversammlung von schwulengeschichte.ch am 16. Mai 2023

Vom Spinatstecher zur Agitationsschwuchtel

eos. Ein langer Weg liegt zwischen diesen Bezeichnungen für Männer "vom anderen Ufer". Die erste ist drastischer Volksmund, der Schwule mit unsauberem Analverkehr gleichsetzt, ein Fluch aus kaum mehr heutiger Zeit. Der andere Begriff, ein ebenso drastisches Wort aus dem schwulen Getto-Slang der 70er/80er Jahre, zielt auf politisch und öffentlich engagierte Schwule. Solche Bezeichnungen sind kaum irgendwo gesammelt und geordnet worden. Sie haben sowohl als Zeitzeugen in ihrer Chronologie wie als Bilder einer verschwiegenen und oft bissigen Insider-Kultur ihren besonderen Wert und werfen zugleich ein scharfes Licht auf die jeweils massgebende allgemeine Gesellschaft. Darum sind sie Teil unserer Website.

Vor gut zwanzig Jahren wurden "Schwulen-Ausdrücke" in grosser Fülle zusammengetragen. Die Macherinnen und Macher der Ausstellung "unverschämt - Lesben und Schwule gestern und heute" wollten sie dem Publikum vorführen (Winter 2002/03 im Zürcher Stadthaus). Es war die Idee einer Hör-Oase entstanden, eines dunklen Raums, wo die laut gesprochenen Schimpfworte und sonstigen Benennungen ein Wechselbad zwischen Betroffenheit und Amüsement erzeugen sollten. Platzmangel stoppte aber das Projekt. Nur ein paar der Worte und Sätze schafften es zwischen die Treppenstufen der Stockwerke, in deren Kreuzgängen sich die Ausstellung präsentierte. Später nahmen wir die ganze Flut der gesammelten Bezeichnungen in die Epoche "Ächtung" unserer Website auf.

Über Minderheiten abschätzig zu sprechen und sie damit auszugrenzen gehört zur Geschichte aller Gesellschaften. Ebenso geschichtlich sind die witzigen und oft ironisch bis sarkastisch gefärbten Ausdrücke, die Minderheiten über sich selbst erfanden und laufend neu erfinden. Es sei nur an jüdische Witze erinnert. Genauso gab und gibt es Homowitze von Schwulen über Schwule, wenn sie sich früher im Getto bewegten oder nun in ihren Gruppierungen zusammenkommen und in die Öffentlichkeit treten. Für die Website mussten wir die gesammelten Ausdrücke gliedern und in Abschnitte teilen. Sie heute durchzugehen ist ein unterhaltsamer Zeitvertreib, der gelegentlich überraschende Einsichten vermittelt.

Krasse Beispiele liefern vor allem politische Ideologien. Etwa, als der russische Schriftsteller Maxim Gorki in der Prawda vom 23. Mai 1934 Homosexualität mit dem Ausdruck "faschistische Perversion" brandmarkte und wenige Jahre später die nazideutsche Propaganda sie verachtend eine "typische Erscheinung des bolschewistischen Untermenschen" nannte. Für Hitler waren Homosexuelle "Schädlinge am gesunden deutschen Volkskörper". Vor einem Jahr begründete Präsident Putin seine "militärische Spezialoperation" u.a. damit, die "schwulen Nazis" in Kiew ausrotten zu müssen. Ähnlich paradox tönte es auch, wenn Papst Benedikt XVI im November 2005 bekanntgab, Homosexuelle könnten nicht zur "affektiven Reife" gelangen "und deshalb keine korrekten Beziehungen zu Männern und Frauen pflegen", während zur selben Zeit die Missbrauchsskandale seiner Priester und Pater ans Licht kamen, aber systematisch vertuscht und verleugnet wurden.

Poetisch klang es dagegen, als "Artgenossen" vor hundert und mehr Jahren eigene Ausdrücke für sich erfanden: Die "Männer des Rätsels", die der "Lieblingsminne" zugetan waren und ihrer "angeborenen Naturgabe" folgten, um somit "das Mittelgeschlecht" zu bilden. Noch vor 1930 kamen weitere Beschreibungen dazu, etwa die von "Freundeliebenden" praktizierte "namenlose Liebe" oder "wir, die Verzauberten". Die harte Zeit nach 1933 bis 1968 machte die Sprache sachlich und forderte zweideutig-verborgene Bezeichnungen wie "Kamerad", "Schicksalsgefährte", "ist Fachschaft", "spielt auch in der Musik", "ein Sachbekenner", "Zunftgenosse", "a member of the family". Und immer gab es, vor allem während den Abstimmungskampagnen und Pride-Demos der 1980er-Jahre bis 2022, viel Witz und Ironie über sich selbst: "Polit-Tussis", "Demo-Tunten", "Flyer-Düsen", "Quotenschwule/Quotenlesben", "Klemmschwestern", "Machotrinen", "Lederschwuchteln", aber auch viel Liebevolles: "Paradiesvögel", "Regenbogen-Menschen", "Caring Community".

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Bezeichnungen

Bücherverbrennungen vor 90 Jahren

eos. Es geschah im Mai 1933, begann in Berlin und brannte weiter im ganzen Nazireich. Zuvor hatten spezielle Sturmtrupps das 1919 von Magnus Hirschfeld gegründete Institut für Sexualwissenschaft zerstört und geplündert.

In Erinnerung daran führt die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld am 10. Mai 2023 einen "Vortrags-, Diskussions- und Gedenkabend" im Wilhelm-Humboldt-Saal der Staatsbibliothek, Unter den Linden 8, Berlin, durch. Das Thema ist "Ausgelöscht. Verloren. Wiederentdeckt. 90 Jahre Zerstörung des Instituts für Sexualwissenschaft".
In der Einladung zu diesem Anlass heisst es:

"Wie kaum eine zweite Institution repräsentierte das 1919 von Magnus Hirschfeld gegründete Institut für Sexualwissenschaft den liberalen Geist der Weimarer Republik. Konzipiert als Forschungs-, Lehr-, Heil- und Zufluchtsstätte ermöglichte es insbesondere allen von der heterosexuellen Norm abweichenden Menschen vielfältige Möglichkeiten der Beratung und Diagnostik, des Austausches und der Fortbildung. Als weltweit erste und für lange Zeit einzige Einrichtung nahm das Institut somit alle, das Sexuelle betreffende Aspekte der menschlichen Existenz ernst und bezog insbesondere in Person seines Gründers Magnus Hirschfeld darüber hinaus auch in politischen und juristischen Fragen eindeutig Stellung. Es wurde im Mai 1933 durch das nationalsozialistische Regime geplündert und anschließend zerstört, Teile seiner Bibliothek im Zuge der Bücherverbrennung vernichtet."

Mit diesem Hinweis wollen wir unsere Leser orientieren und sie erinnern, dass Verbrechen nie versteckt werden noch vergessen gehen können und es möglich ist, selbst am Ort des Geschehens das Denken der Menschen völlig zu verändern.

Generalversammlung von schwulengeschichte.ch am 16.05.2023

hpw. Wie schon im letzten Newsletter angekündigt, führt der Verein schwulengeschichte.ch am 16. Mai seine jährliche Generalversammlung durch. Neben einem Rückblick auf die Tätigkeiten des letzten Jahres ist die GV auch immer der Ort, an dem Pläne für die Zukunft vorgestellt beziehungsweise geschmiedet werden. Dafür brauchen wir eure Unterstützung.

Wir laden auch alle Newsletter-Abonnentinnen und -Abonnenten zu der diesjährigen Versammlung ein. Diejenigen, die noch nicht Mitglied sind, laden wir zusätzlich ein, jetzt dem Verein beizutreten und an der Generalversammlung mitzubestimmen. Der Mitgliederbeitrag beträgt CHF 100.

Die Generalversammlung findet am Dienstag, 16. Mai 2023 ab 18.30 Uhr im Rosa-Gutknecht-Zimmer im Kulturhaus Helferei, Kirchgasse 13, 8001 Zürich statt.

Die Kontoangaben für die Mitgliedschaft finden Sie hier:
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