Newsletter 163
Juli 2023
Diese Ausgabe enthält das folgende Thema:
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30 Jahre Schwulenarchiv Schweiz
30 Jahre Schwulenarchiv Schweiz
eos. Am 10. Juli 1993 wurde der Verein Schwulenarchiv Schweiz (sas) in Bern gegründet. Das Archiv selbst befindet sich am selben Ort wie das Schweizerische Sozialarchiv, also in Zürich. Es ist dort eigenständig eingelagert und enthält auch Bestände zur Lesbengeschichte. Mit dieser Verbindung ist das gesamte Material gesichert und in gleicher Art öffentlich zugänglich wie die Archivalien der Schweizerischen Sozialgeschichte. Die Gründung in Bern wies auch darauf hin, dass es sich um eine gesamtschweizerische Angelegenheit handelt.
Von Anfang an war eine Stiftung angedacht als Besitzerin der diversen Bestände. Sie konnte am 12. April 2008 in Warth (TG) gegründet werden. Zu Ehren des ersten in der Schweiz offen auftretenden Homosexuellen nennt sie sich Heinrich Hössli Stiftung. Heinrich Hössli (1784-1864) veröffentlichte 1836 in seinem Heimatort Glarus den ersten Band eines umfassenden Werkes, das Homosexualität als natürliche Anlage beweisen sollte.
Es ist gelungen, den Präsidenten dieser Stiftung, Dr. Franco Battel, der zugleich Gründungsmitglied des Schwulenarchivs Schweiz ist, zu gewinnen, etwas zur Zeit der Gründung und zum Schwulenarchiv als Jubiläumsbeitrag zu schreiben. Dafür danke ich ihm persönlich und im Namen des Vereins schwulengeschichte.ch sehr herzlich.
Erinnerungen an die Gründung von Franco Battel
Es war im Sommer 1993. Ich war damals Geschichtsstudent in Zürich und ziemlich grün hinter den Ohren. Aber schon damals waren ich und andere junge Schwule davon überzeugt, dass wir ein schwules Archiv gründen mussten. Um unsere Geschichte zu sichern, um sie dem Vergessen oder gar der gezielten Tilgung zu entziehen. Heute scheint dies eine Selbstverständlichkeit zu sein - doch das war es damals ganz und gar nicht. Aber der Reihe nach:
Eine Gruppe von Züricher Studenten hatte irgendwann im Herbst 1992 davon erfahren, dass es ein sagenumwobenes Protokollbuch gebe. Ein Dokument aus den 1930er-Jahren, das als erste Quelle lesbischer und schwuler Selbstorganisation in der Schweiz gelten könne. Und dieses Buch sei bei einem schon älteren Herrn in seiner Wohnung und werde dann vielleicht einmal, nach dessen Tod, in einer Mülltonne oder im Altpapier landen. Das war der Weckruf.
Ab diesem Zeitpunkt waren wir wie beseelt von der Idee, ein Archiv zu schaffen für schwule Geschichte - ein Archiv für Lesben gab es damals schon. Und das erste Sammlungsstück musste genau dieses Buch sein. Wir hatten damals noch wenig Wissen und vor allem viel Glück. Wir fanden Leute, unter ihnen auch ältere Schwule, die uns vertrauten und unterstützten. Und so kam das sogenannte Amicitia-Protokollbuch bald aus der Wohnung dieses älteren Herrn, Carl Zibung, zu uns. Es wurde das erste Objekt bzw. Dokument unserer Sammlung.
Beeindruckende Sammlung
Nur: was tun mit diesem grossformatigen, sperrigen, in Handschrift verfassten Buch? Es gab mehrere Möglichkeiten. Wir machen selbst ein Archiv auf, irgendwo in einem Hinterzimmer, in einem Kellerlokal oder auf einem Estrich. Und organisieren in Frondienst einen rudimentären Schalterdienst. Oder wir spannen mit einem bestehenden Archiv zusammen, das eine professionelle Erhaltung und einen benutzerfreundlichen Zugang garantiert. Schnell war klar, dass wir diese letzte Variante favorisierten und so nahmen wir Verhandlungen mit dem Schweizerischen Sozialarchiv in Zürich auf. Diese führte Patrik Schedler als erster Präsident des Schwulenarchivs mit Erfolg. Wir konnten das Amicitia-Protokollbuch und auch weitere Dokumente, die wir bereits gesammelt hatten, dem Sozialarchiv als Dauerlegat zur langfristigen Erhaltung übergeben.
Damit waren die Ingredienzen für jenen Urteig gemischt, aus dem sich alles weiterentwickelt hat: ein paar junge Studenten, hilfsbereite ältere Leute, das Protokollbuch bzw. weitere Dokumente und das Sozialarchiv.
Heute verfügt das Schwulenarchiv Schweiz im Schweizerischen Sozialarchiv über eine beeindruckende und auch im internationalen Vergleich bedeutende Sammlung: Vereinsarchive, Tagebücher, Fotos, Filme, Zeitschriften, Bücher oder selbst Zeichnungen und Gemälde. Darum haben wir eben damit begonnen, mit dem Kunstmuseum Olten zusammenzuarbeiten, da Kunstobjekte eher ins Museum als ins Sozialarchiv gehören.
Um unsere wertvolle Sammlung abzusichern, hat das Schwulenarchiv die Heinrich Hössli Stiftung gegründet und dieser die Besitzrechte an den Archivalien übertragen. Die gemeinnützige Heinrich Hössli Stiftung soll aber auch Spenden anziehen. Mit diesen unterstützt sie vor allem die historische Forschung.
Das Schaufenster schwulengeschichte.ch
Ebenfalls sehr wichtig ist die enge Zusammenarbeit mit schwulengeschichte.ch. Denn was in unserem Archiv schlummert, ist auch deshalb bekannt, weil Ernst Ostertag und Röbi Rapp mit der schwulengeschichte.ch ein grosses Schaufenster geschaffen haben, auf dem sie auch unsere Dokumente zum Leben erwecken - angereichert durch eigene Erfahrung und weitere Quellen. Eine Symbiose, die weiter ausbaufähig ist.
Heute steht das Schwulenarchiv Schweiz vor einer grossen Herausforderung. Denn was Schwule oder ihre Vereine früher auf Papier hinterliessen, hinterlässt die vielfältiger gewordene Community heute fast ausschliesslich digital in Clouds, Chats oder auf Festplatten. Vieles droht unwiderruflich verloren zu gehen. Wir vom Schwulenarchiv versuchen mit dem sogenannten "web harvesting" zumindest einen Teil dieser flüchtigen Geschichte einzusammeln und zu erhalten. Gleichzeitig wirkt das Attribut "schwul" in den Ohren der Jüngeren arg angejahrt, unterdessen gibt es zusätzliche Begriffe, weitere Identitäten und damit auch andere Geschichten.
Bald wird wohl eine neue Generation übernehmen und dann auch entscheiden, ob es eine neue Begrifflichkeit braucht oder ob ein der Geschichte verpflichteter Verein seinen antiquierten Namen behalten soll. Dabei ist eines sicher: diese Jungen werden, wenn sie es wünschen, wieder auf hilfsbereite ältere Schwule zählen können.
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