Newsletter 172

April 2024

Diese Ausgabe enthält das folgende Thema:

  • 15 Jahre online - eine unglaubliche Geschichte

     

15 Jahre online - eine unglaubliche Geschichte

dbr. Seit 15 Jahren gibt es die Website schwulengeschichte.ch mit ihren tausenden von Seiten, unzähligen Geschichten, fantastischen Bildern und ihrem Schatz an Wissen, das schon vielen Forschenden genützt hat. Wer sich das Vergnügen erlaubt, die ganze Website zu durchforsten und zu lesen, bekommt eine Ahnung, welche immense Arbeit dahintersteckt. Die Entstehungsgeschichte der Website ist fast so abenteuerlich wie das ganze Projekt.

Am Anfang standen, wie oft, zwei Männer mit einer langen Geschichte im queeren Milieu, mit viel Engagement für schwule Emanzipation und kaum Ahnung, was auf sie zukommen würde: Ernst Ostertag und Röbi Rapp. Sie waren dabei, als die Leitung der Homosexuellen Arbeitsgruppen Zürich (HAZ) darüber diskutierte, zum 30-Jahre-Jubiläum der Organisation eine Ausstellung zu organisieren. Weil kurz zuvor im Schweizerischen Landesmuseum Zürich die Ausstellung DER KREIS zu sehen war, plädierten Röbi und Ernst dafür, nach so kurzer Zeit nicht schon wieder eine Ausstellung über eine Organisation, die HAZ, zu machen, sondern wenn schon, eine umfassende Darstellung der Geschichte von Schweizer Schwulen und Lesben zu gestalten. Tatsächlich bekamen die HAZ dann die Möglichkeit, im Stadthaus Zürich die Ausstellung "unverschämt - Lesben und Schwule gestern und heute" zu zeigen. Da die HAZ in ihrer Geschichte immer schon für Frauen offen war, sollte es also nicht nur um die Schwulen gehen. Natürlich wurden die beiden, die den Vorschlag für die Gestaltung der Ausstellung gemacht hatten, auch gleich für die Realisierung eingespannt.

Randvolle Zügelkisten fürs Schwulenarchiv Schweiz

Kurz zuvor waren Ernst und Röbi unverhofft an viel Material aus der Zeit des KREIS gekommen. Eigentlich hatten die Statuten des KREIS bestimmt, dass nach Auflösung des Vereins alles Material vernichtet werden solle. Man konnte sich damals nicht vorstellen, dass einmal eine Aufarbeitung der Geschichte stattfinden könnte. Zu sehr musste man bis in die 1970er-Jahre im Versteckten leben, sich mit erfundenen Namen anonymisieren und Beweise, die einen in Schwierigkeiten hätten bringen können, verstecken oder eben vernichten.

1999 starb Eugen Laubacher/Charles Welti. Dieser war von Anfang an der Redaktor des französischen Teils des Kreis gewesen und hatte darum sehr viel Material bei sich zu Hause. Er war ein Sammler, das war wohl der Grund, warum er die Bestimmung aus den KREIS-Statuten zur Vernichtung des Materials ignorierte. Ernst und Röbi wurden angefragt, ob sie die Hinterlassenschaft aus der Zeit des Kreis übernehmen wollten, sonst würde alles weggeworfen. Da nur wenig Kreis-Material die Zeit überstanden hatte, waren sie sofort alarmiert und sagten zu, alles rasch abzuholen. Bald schon stapelten sich in ihrem Keller mehrere randvolle Zügelkisten, die sie zwei Jahre später geordnet und mit einem Verzeichnis versehen dem Schwulenarchiv Schweiz (sas) übergaben.

An alles gedacht, den Katalog vergessen

Die Gestaltung der Ausstellung war eine riesige Arbeit. Niemand rechnete damit, dass auch ein Katalog zur Ausstellung entstehen sollte. Wie Ernst heute erzählt:

"Wir haben an alles gedacht, aber nicht daran, dass für Ausstellungen im Stadthaus immer auch ein Katalog zu erstellen ist. Die Stadt Zürich möchte ihre Tätigkeit auch auf diesem Gebiet dokumentiert wissen. Eines Tages fragte darum der damalige Stadtpräsident Elmar Ledergerber: Wo ist der Katalog zur Ausstellung? Wir waren durch die ganze Arbeit schon am Ende unserer Kräfte und dann kam auch noch das!"

Ernst erklärte sich schliesslich bereit, diese Arbeit zu tun, aber nur für die Schwulen. Die Frauen meinten, er könne den Lesbenteil der Ausstellungstexte ebenfalls übernehmen, sie würden erst später ihre Geschichte aufschreiben. Diese Geschichtsschreibung ist heute als l-wiki.ch online zu finden. Sie wird permanent weiter ausgebaut.

Die Idee eines Ausstellungskatalogs stand also am Anfang. Daraus ergab sich sukzessive die spätere Text-Sammlung, wie wir sie heute auf der Website schwulengeschichte.ch finden. Aber soweit war es noch lange nicht.

Ernst Ostertag entwickelte die Idee, ein Buch zu schreiben, das nichts weniger als die Geschichte der Schwulen in der Schweiz dokumentieren sollte. Das Material, das ihm zur Verfügung stand, deckte weit mehr ab, als für einen blossen Katalog verwendet werden konnte. Darum schrieb er einfach weiter und immer weiter, jahrelang. Zusammen mit Röbi Rapp führte er auch Interviews mit ehemaligen Mitgliedern des KREIS. Die Zeit drängte, viele waren schon verstorben, etliche im Altersheim, oft begegneten die beiden Leuten mit zunehmend schwindendem Gedächtnis oder hörten bunt ausgeschmückte Geschichten. Es traten in den verschiedenen Erzählungen Widersprüche auf, die zu klären waren. Ein Glück, dass Röbi und Ernst selbst Zeitzeugen waren und mit ihren eigenen Erinnerungen die Geschichten verifizieren konnten.

Lange Zeit hatten nur Ernst Ostertag, Röbi Rapp, Giovanni Lanni und Beat Frischknecht Kenntnis vom Buchprojekt. Ernst schrieb, Röbi redigierte und Beat sicherte die einzelnen Kapitel auf seinem Computer als zweite Kopie für alle Fälle. Giovanni, der Ernst und Röbi ergänzte, war für das Wohl der Beiden verantwortlich. Er nahm sie regelmässig an den Wochenenden mit auf Ausflüge und Wanderungen. Dann war es verboten, über das Buchprojekt zu sprechen!

Der Traum vom Buch platzt...

In der Zwischenzeit konnten sie den renommierten Verlag NZZ Libro gewinnen, der an der Buchherausgabe interessiert war. Aber im Herbst 2008, als das Buch fast fertig geschrieben war, kam alles anders. Ernst und Röbi sowie Christian Fuster, der die Veröffentlichung des Buches unterstützte, wurden zu einer Besprechung in den Verlag eingeladen. Dort teilte man ihnen mit, dass der Umfang der Materialien für mindestens drei Bände reichen würde. Auch eine versuchte Kürzung der Texte führte nicht dazu, dass eine Veröffentlichung als Buch eine Chance hatte. Der Verlag schlug ihnen schliesslich vor, sie sollten doch aus den Texten eine Website machen, dann müssten sie niemanden fragen, könnten so viel Text und so viele Bilder veröffentlichen, wie sie wollten und später sogar noch Ergänzungen hinzufügen.

Die drei zogen niedergeschlagen ab und auf der Rückfahrt fragte Ernst Christian:

"Weisst du eigentlich, was eine Website ist?"

Ernst schrieb seine Texte am Computer, mit 78 Jahren nutzte und verstand er diese Technik gut, trotzdem hatte er keine Vorstellung, was eine Website sei. 15 Jahre später ist dies für uns kaum denkbar, inzwischen gibt es für alles eine Website. Damals war das nicht so. Aber Christian hatte zum Glück eine Ahnung und fand die Idee gar nicht so schlecht. Er mobilisierte weitere Helfer, der Verein Network half im Hintergrund und innert weniger Monate wurden die Buchkapitel zu kleinen Website-konformen Häppchen umgeschrieben.

...dafür entstand eine erfolgreiche Website

Weil die Veröffentlichung als ein wichtiger Event an der Euro Pride 2009 in Zürich geplant war, wurde auch diese Arbeit ein Wettlauf mit der Zeit. Noch einmal gingen die Beteiligten an ihre Grenzen und schafften es auch jetzt, die ehrgeizige Zeitplanung einzuhalten. Ende April 2009 ging die Website provisorisch online. Am 3. Juni 2009 wurde dieser Akt im Zürcher Kunsthaus feierlich und offiziell begangen. Dabei gab es je eine Laudatio von drei Personen des öffentlichen Lebens. Zusammen mit weiteren Informationen über die Entstehung der Website sind sie auf schwulengeschichte.ch nachzulesen.

Nach der Veröffentlichung wurde die Website sowohl inhaltlich, wie auch technisch weiterentwickelt. Ihr Gesicht veränderte sich und es tauchte die Frage auf, ob es vielleicht irgendwann von historischem Interesse sein könnte, die Ur-Website zur Verfügung zu haben. Zwar wurde sie zu Beginn noch in der Sammlung Webarchiv Schweiz der Nationalbibliothek gesichert. Diese Sicherung wurde aber 2012 eingestellt und erst auf kürzliche Intervention des Vereins schwulengeschichte.ch bei der Nationalbibliothek wieder aufgenommen. Der Verein entschloss sich also 2013 die erste Fassung der Website als PDF zu exportieren und auf der Website allen zur Verfügung zu stellen, was 2014 geschah.

Wenn der Inhalt des PDFs mit der aktuellen Website verglichen wird, ist zu erkennen, wie etliches korrigiert oder umgeschrieben werden konnte, weil neu entdeckte Quellen dies ermöglichten und verlangten. Tatsächlich sind viele Änderungen und Erweiterungen zu finden. Etwa ab 2014 wurden der Website Biografien von schwulen Persönlichkeiten hinzugefügt, wofür auch neue Autoren gewonnen werden konnten. Viele Kapitel wurden laufend ergänzt, neue kamen dazu, so etwa die Geschichte des schwullesbischen (heute queeren) Filmfestivals Pink Apple.

Die Website wurde mit riesigem Engagement aufgebaut, solches braucht es jetzt auch für die Weiterentwicklung. Wenn dir wichtige Geschichten auf schwulengeschichte.ch fehlen, du über Material verfügst, das diese Geschichten dokumentiert, oder du gar Lust hast, solche Geschichten zu schreiben, dann melde dich bitte bei info-at-schwulengschichte.ch.

Weiterlesen:
Entstehung der Website
Website-Fassung Juli 2014
L-World - Das Wiki zur Lesbengeschichte der Schweiz