Newsletter 175

Juli 2024

Diese Ausgabe enthält die folgenden Themen:

  • Karl Meier / Rolf zum 50-jährigen Todestag
  • Erster Teil: Monogam und polygam
  • Queer im Leben! Ausstellung in Mannheim

Karl Meier / Rolf zum 50-jährigen Todestag

eos. Eigentlich hätte ich eine Erinnerung an den Gründer und Leiter des KREIS bereits im Frühling als Newsletter-Beitrag bringen sollen, denn er starb am 29. März 1974. Doch damals hatte ich erst vage die Idee im Kopf, Meiers geistiges Ideal in den Vordergrund zu stellen statt sein recht gut bekanntes Leben. Dieses Projekt musste noch reifen. Nun soll es, über zwei Monate verteilt, meine Kolumne füllen.

Damals im KREIS war Rolf, wie ihn alle nannten, für die meisten jüngeren Mitglieder des Lesezirkels ein Vater-Vorbild. Denn keiner hatte einen offen schwul lebenden Onkel oder nahen Bekannten, jemand, von dem zu lernen war, wie ein sinnvolles Dasein als homosexueller Mann gestaltet werden konnte. Rolf war im verborgenen Getto des KREIS allgegenwärtig. Gleichzeitig kannte und schätzte eine breite Öffentlichkeit den Schauspieler Karl Meier. Während der Kriegszeit und in den globalen Spannungen der Jahrzehnte danach sahen viele junge Menschen ihre Zukunft düster und ungesichert. Schwulen drohte zusätzlich überall in der homophoben Alltagsnormalität Absturz und Existenzverlust. Man brauchte bestandene Gestalten und Kameraden als Vorbilder und fand sie im KREIS.

Weil wir im KREIS aktiv waren und ihn mindestens einmal in der Woche sahen, war Rolf für Röbi und mich ein naher Vater-Freund. Was ihn als Schauspieler auf der Bühne und als Leiter des KREIS und Redaktor des deutschen Teils der Zeitschrift Der Kreis antrieb und sein eigentliches Ideal war, das möchte ich nun zum 50. Todesjahr in Erinnerung rufen und von heute her sehen, ob es noch immer Bestand hat. Daher zwei Teile, der erste mit der Frage nach der Treue zum Partner und der andere mit der Frage nach Spiritualität oder Glaube im schwulen Leben.

Erster Teil: Monogam und polygam

Das Ideal der Monogamie gibt es wohl seit Adam und Eva. Nach der Überlieferung waren sie das erste Partnerpaar. Fremdgehen war nicht möglich. Sex diente zur Vermehrung. Erst dadurch gab es Auswahl. Und Auswahl erweiterte die erotische Lust auf andere, auf Gegen- oder Gleichgeschlechtliche. Es entstanden polygame Verhaltensweisen. Sie galten als ungeordnet und wurden in den meisten Kulturen, Gesellschaften, Staatswesen tabuisiert. Zum Ideal der Monogamie gehört die klassische Familie als Grundlage einer Nation. Doch von da her ist es nicht weit bis zum nächsten "Ideal", jenem des kastrierten Sex ausschliesslich zur Nachkommen-Zeugung. Eine widernatürliche Entwicklung. Könnte Polygamie demnach - zumindest für den Mann - natürlich sein? Für eine Mehrheit gilt wohl trotzdem: Nicht gelenkte, "traditionell gelebte" Erotik ist gefährlich, wer sie lebt, wird ausgegrenzt. Aus Neid?

Wir Homosexuellen erfüllen das klassische Sex = Nachkommen-Muster nicht. So ist unsere Natur. Wir können es nicht erfüllen, ausser wir verwenden künstliche Mittel. Wir wurden und werden deswegen abgelehnt und angefeindet. Meist zeigen wir es in der Öffentlichkeit selbst heute nicht, wenn wir verliebt sind. Andererseits jedoch befreit uns das Anderssein von den Zwängen der Normalität. Wir müssen nicht die Ehe der Heterosexuellen kopieren. Wir können auch die polygamen Möglichkeiten ausprobieren und unsere Partnerschaften offen und vielfältig gestalten. Das haben die meisten von uns schon von jeher getan. Eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft kann sowohl monogam wie zugleich polygam über Jahre in gegenseitigem Einklang bestehen. Das wäre vielleicht unser Ideal. Beispiele gibt es viele.

Rolf und die "Ethik der Freundesliebe"

Seinerzeit im KREIS, also von den 40er- bis weit in die 60er-Jahre des letzten Jahrhunderts, galt die Devise, einen "festen Freund zu haben und gegenseitig treu" zu sein. Karl Meier / Rolf lebte dieses Ideal vor, schrieb und sprach auch darüber. Aber er fasste das Ideal viel tiefer als es der moralische Imperativ des "Treu seins bis der Tod euch scheidet" fordert. In einem Vortrag, den er in Deutschland hielt, formulierte Rolf das, was er im Titel "Ethik der Freundesliebe" nannte und publizierte es im Kreis-Heft 12/1961. Hier einige Passagen aus dem Schlussteil (S. 6/7):

"Und so dürfen wir doch (…) für unser Verhalten die seelisch-geistige Forderung in das Zentrum der Freundesliebe stellen: Für den Anderen da zu sein, ohne Rückhalt, ohne Einschränkung, ohne Berechnung für das eigene Ich. Erst in dieser Aufgabe, die wir uns im Zusammenleben mit unserem Gefährten stellen, erhärtet sich auch das Gültige in der Kameradenliebe, das Dauernde über den körperlichen Rausch hinaus, das Sittliche (…). Weichen wir ihm nicht aus in gedankenloser Bequemlichkeit! Nehmen wir den Gefährten ernst, wenn wir den Anspruch erheben, selbst ernst genommen zu werden. (…) Der Raum, den es immer aufs Neue zu erforschen gilt, und in dem noch keiner an die unausdenklich ferne Grenze gekommen ist, bleibt das menschliche Herz, bleibt das Herz dessen, der neben dir schläft, der dich abholt von deiner Arbeit, den du vermissest, wenn er einmal nicht anruft (…). Wir nehmen jeder einen Teil vom andern in unser eigenes Leben auf. Sehen wir zu, dass unser Teil nicht zu leicht befunden wird, den wir weitergegeben haben."

Wenn Ethik für Homosexuelle so gefasst wird, haben neben der monogamen Liebe auch die vielen Formen des polygamen Liebens darin Platz. Für viele im KREIS war es kein Geheimnis, dass Rolfs Lebenspartner Fredi nicht nur ein Seniorenliebender, sondern auch ein bisexueller Mann war und das mit älteren Frauen auslebte. Rolf wusste und tolerierte es. Und wir sprachen nicht darüber. Natürlich gab es viele Männerpaare im KREIS, die als "fix" galten, aber wohl ebenso viele andere lebten ihre Partnerschaft "offen" und einige wollten gar keine feste Bindung, nannten sich "Bienchen, die von Blume zu Blume fliegen". Mann lebte damals wie heute. Und Rolfs Ethik erwies sich immer als gültig auch wenn sich niemand mehr an sie erinnerte.

Das Beispiel Rolf und Fredi öffnete sich erst als Ganzes jenen, die mit ihnen befreundet oder ihre Familienangehörigen waren. Denn Fredi sah man selten im KREIS. Er war Krankenpfleger und hatte - als Lediger - oft Abend- oder Nachtdienst. Daneben besorgte er den gesamten gemeinsamen Haushalt, weil Rolf keinerlei Begabung für Häusliches hatte. Auch die Gesundheit seines fast 20 Jahre älteren Partners lag völlig in Fredis Händen, und geradezu diktatorisch organisierte er regelmässig die Zeiten der Ausspannung, etwa im Haus der Familie Meier in Kradolf (TG), das Rolf mit dem Tod seiner Eltern geerbt hatte. Nach Rolfs Schlaganfall im November 1970 pflegte ihn Fredi anfänglich zu Hause bis er ihn nach weiteren Anfällen zu sich ins Pflegezentrum Käferberg (Zürich-Wipkingen) nahm, wo er Stationschef war. Dort blieb er bei ihm so oft er konnte, auch nachts. Bis Rolf schliesslich in seinen Armen starb.

Der Seitensprung-Fünfliber und andere Arrangements

Diesem Beispiel einer offenen und dennoch monogamen Partnerschaft und Freundesliebe soll ein weiteres aus dem Umfeld des KREIS folgen. Das von vielen gekannte Freundespaar Wisel und Fritz lebte über Jahrzehnte offen und zugleich treu und harmonisch zusammen bis Fritz starb. Beide waren fröhliche Menschen und gute Gastgeber, man kam gerne zu ihnen. Im Korridor der Wohnung stand die allen bekannte gläserne Vase am Boden, mehr oder weniger gefüllt mit Fünflibern. Das erste bei der Begrüssung war stets ein rascher Blick dorthin, halbvoll oder fast leer? Jeder wusste um das kleine Geheimnis. Wisel und Fritz hatten sich ein Gesetz gegeben, das sie strikt befolgten: Ein Seitensprung kostete Fünfliber, zwei oder nur einen, je nachdem wie intensiv es war. Und mit dem Klang in der Vase wurde das Vorgefallene gemeldet und zugleich abgebüsst. Damals entsprach das Fünffrankenstück knapp einer heutigen 20er Note. Das Wisel/Fritz-System war eine praktische, effiziente Sache. Denn waren kleine oder grössere Anschaffungen in Küche, Bad, Veranda oder sonst wo im Wohnbereich nötig, machten die beiden ein kleines Fest aus dem Einkauf und bezahlten vom Vasengeld. Wir machten uns jeweils ein Spiel, wer eine eventuelle Neuerwerbung zuerst entdeckte.

Auch Röbi und ich lebten nach den Anfangsjahren recht offen, also polygam nebst der uns ganz erfüllenden einzigen Liebe. So kam es, dass ein kleiner Seitensprung von mir zu wohl einmaligen Folgen führte. Mein Bursche, ein dunkler Typ mit schwarzen Augen, hatte eben die Ausbildung bestanden und als Steward bei der Swissair seinen Traumberuf angetreten. Natürlich erzählte ich wenig später Röbi davon. Er war nicht begeistert. Dennoch kam ich nochmals, nun detaillierter auf das Abenteuer zurück, weil ich wusste, dass dieser Mann eher Röbis Typ entsprach als dem meinigen und er sicher Freude an ihm haben könnte. Schliesslich gab es ein Treffen mit Röbi, und wir blieben nun locker in amouröser Beziehung mit dem Steward. Fast ein halbes Jahr später, 1964, erhielt Röbi die Arbeitsstelle in Beirut, um die er sich für ein Jahr beworben hatte. Damals war der Libanon ein Land des Überflusses, ein Ferienparadies mit herrlichen Landschaften, blühender Kultur, reicher Gastronomie, und Beirut galt als das mondäne Paris des Nahen Ostens. Kaum hatte sich Röbi dort eingelebt, meldete sich der Steward, er sei einem Flug nach Beirut zugeteilt, ob ich etwas für Röbi habe, das er mitnehmen könne. Er erschien bei mir für einen langen Abend, nahm die Sachen mit, um sie am nächsten Abend bei Röbi abzuliefern. Die Swissair flog damals erst am nächsten Tag zurück. So kamen wir zu einem Steward als Amor go-between, wann immer Beirut auf dessen Dienstplan stand. Die Geschichte endete jedoch abrupt, da Röbi, heimwehgeplagt, bereits ein halbes Jahr später in die Schweiz zurückkehrte. Und unsere Liebeswege trennten sich, als der Steward in einem Berufskollegen seinen Lebensgefährten fand. Doch in freundschaftlichem Kontakt verblieben wir bis heute.

Im Alter von über 70, als wir das Fremdgehen beendet glaubten, meldete sich Anfang 2003 ein 43 Jahre jüngerer Mann bei Röbi und mir zu einem Gespräch, das sich schliesslich bis zum Morgen hinzog. Es war Giovanni, ein Seniorenliebender. Aus dieser Begegnung entwickelte sich rasch eine heftige Liebesbeziehung und mit den Jahren wuchs eine tiefe, harmonische Liebe zu dritt. Giovanni half durch Röbis Krankheit und tat, was ich aus mangelnder Kraft nicht mehr leisten konnte. Bis Röbi in unseren Armen starb. Giovanni blieb bei mir. Und seither lebt Röbi weiter in unseren Herzen, nebst dem wohl immer bleibenden Schmerz des Vermissens.

Karl Meier / Rolfs "Ethik der Freundesliebe" gilt wohl auch in polygamen Beziehungen - ohne jede Einschränkung. Dies ganz einfach, weil die Natur sich nie spalten und kanalisieren lässt, weder Gut noch Böse kennt und vor allem in endloser Vielfalt dauernd Neues schafft. Und genau damit zwingt sie uns stets neu Bahnen zu finden, in denen wir ein sinnvolles Miteinander leben können.

Queer im Leben! Ausstellung in Mannheim

Vom 11. Juli bis 1. September 2024 ist im Archivum Mannheim die Ausstellung "Queer im Leben! Wege und Stationen queeren Lebens in Mannheim und der Region" zu sehen. Gezeigt werden Stationen der Geschichte des queeren Lebens, auf der einen Seite geprägt von Verfolgungen, Stigmatisierungen und Diskriminierungen, auf der anderen Seite vom Dagegen-Aufbegehren, von queeren Emanzipationen und dem Entstehen queerer Communities.

Weitere Informationen auf www.marchivum.de