Newsletter 177

September 2024

Diese Ausgabe enthält das folgende Thema:

  • Schwulengeschichte.ch ist 15 Jahre online - was geschah 2009 im Leben von Tobias Urech?

Schwulengeschichte.ch ist 15 Jahre online - was geschah 2009 im Leben von Tobias Urech?

jbr. 15 Jahre online - Schwulengeschichte erzählt Geschichten aus dem Jahre 2009. Heute berichtet Tobias Urech, alias Mona Gamie, über sein Erlebnis aus diesem Jahr.

Tobias winkt ab, als ich ihn nach einem Erlebnis aus dem Jahr 2009 frage:

"Da war ich 15, ich wusste noch nicht, dass ich schwul bin. Mein inneres Coming Out hatte ich erst ein Jahr später, als mir plötzlich bewusst wurde, dass ich so empfinde."

Am Anfang Bewunderung für den Zusammenhalt

Dann aber, nach kurzem Nachdenken erinnert er sich:

"Doch da war was Lustiges. Ich erinnere mich, dass ich im Internet gegoogelt habe, einfach so aus Interesse. Dabei stiess ich auf einen Wikipedia-Artikel über die Pride und dachte: ‘So schön, dass die so einen Zusammenhalt und so eine Community haben. Schade, dass ich da nicht dazugehöre.’ Das war schon schräg, dass ich das wollte, ohne selbst auf die Idee zu kommen, ich könnte schwul sein. Ich war begeistert darüber, dass es Menschen gab, die zusammen für sich einstehen können und so ein Gemeinschaftsgefühl haben. Das wollte ich auch, danach sehnte ich mich. Aber nicht, weil ich mich als Schwuler erkannt hätte, sondern wegen des Zugehörigkeitsgefühls."

Erst ein Jahr später wurde ihm bewusst, dass er schwul ist. Das war für ihn auch sofort gut so.

"Ich habe mich - ob vor oder nach meinem inneren Coming Out - nie gegen das Schwulsein gewehrt. Die Erkenntnis kam plötzlich. Ein Ereignis, wie zum Beispiel, dass ich mich in meinen besten Freund verliebte oder ähnliches, gab es bei mir nicht. Stattdessen kam mir eines Abends der Gedanke, ich könnte ja schwul sein, und vieles, was vorher unklar war, ergab danach sofort Sinn. Darum wusste ich auch, dass es so stimmig ist."

Nach seinem inneren Coming Out 2010 dauerte es dann bis am 25. Oktober 2013, dass Tobias zum ersten Mal als Drag Queen auftrat. Für eine Party des Milchbüechli wollte Florian Vock, der damalige Chefredakteur des Blattes, eine Drag Queen engagieren und fand keine. Er fragte Tobias, ob er jemanden kenne, den man engagieren könnte, und dieser fand: "Eigentlich hätte ich selbst Lust, das einmal auszuprobieren." Und schon war er gebucht.

Engagement für die Community

Beim ersten Auftritt war er, wie er selbst sagt, noch etwas schäbig gekleidet, aber es gab trotzdem Applaus, es war ein wohlwollendes Publikum. Mona Gamie war geboren. Dem ersten Auftritt folgten weitere, weil es Spass machte, aber auch weil Tobias als Mona sich für die Bewegung engagieren konnte und Aufmerksamkeit für deren Anliegen bekam. Mona zeigte sich bald monatlich an Anlässen der Milchjugend und später auch an weiteren Veranstaltungen innerhalb und ausserhalb dieser Organisation. Als Drag Queen aufzutreten, war eine gute Möglichkeit, für die Bewegung zu sprechen.

Tobias sagt aber auch ganz offen:

"Natürlich wäre es falsch zu sagen, dass ich nur aus altruistischen Motiven als Drag Queen auftrete. Es ist halt einfach toll, vor einem Publikum zu stehen, die ganze Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und queere Freude zu verschenken. Für mich war und ist Mona immer eine Möglichkeit, dem Alltag zu entfliehen und andere Dinge zu erleben. Obwohl sie inzwischen irgendwie auch zu einem Teil meines Alltags geworden ist."

Im Laufe der Jahre wurden die Auftritte immer häufiger und im November 2023 konnte Tobias Urech bereits das 10-jährige Bühnenjubiläum von Mona Gamie feiern.

Um die Jahrtausendwende war die alte Drag-Kultur fast ganz verschwunden. Ältere hatten aufgehört und es waren lange keine neuen Drag Queens aufgetreten. Als Tobias damit begann als Mona auf die Bühne zu gehen, fand er darum grosses Interesse.Er meint: "Ich hatte wohl Glück, dass ich zur richtigen Zeit am richtigen Ort war".

Wir sinnieren über mögliche Ursachen für das weitgehende Verschwinden von Drag aus der Öffentlichkeit damals. Wir vermuten, dass Aids, woran viele verstorben sind und das eine Zeitlang dem unbeschwerten Nachtleben ein Ende setzte, dazu beitrug. Auch die darauffolgende Clubkultur und Techno in den 1990er-Jahren, die eher auf Tanzen und Drogenkonsum aufbauten, liessen wenig Raum für Drag. Schwulsein wurde nicht mehr als "Anderssein" zelebriert, es ging nach den schrecklichen Erlebnissen der Aids-Zeit eher darum, alles zu vergessen und Entspannung zu suchen.

Zunehmend angestrebt wurde auch eine Normalisierung. Queere Menschen sollten ganz normal, versehen mit allen Rechten mitten in der Gesellschaft leben. Diese Entwicklung, führte unter anderem zur Kampagne für das Partnerschaftsgesetz, die mit ihren herzigen "Liebe ist…"-Sujets der Heteronormativität nacheiferte.

Doktorarbeit zu Freund*innenliebe

Tobias studierte Geschichte und Genderstudies. Seine Doktorarbeit schreibt er zur Zeit unter dem Titel "Freund*innenliebe. Beziehung, Geschlecht und (homosexuelle) Subjektivität (ca. 1870-1970)". Er war schon immer an Geschichte interessiert, das Studium hat sich daraus entwickelt. Das Thema seiner Doktorarbeit beruht natürlich einerseits auf persönlichem Interesse aber auch, wie er sagt, weil gerade auch queere Geschichte erforscht gehört.

Mit diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass er auch in unserem Gespräch auf den Gedanken kommt, dass das Verschwinden der Drag-Kultur einmal genauer angeschaut werden sollte. Er meint:

"Vielleicht müsste man genauer untersuchen, welche Gründe tatsächlich dazu führten, dass das Interesse an Drag-Kultur in der schwulen Welt Ende der 1990er- und Anfang der 2000er-Jahre so gering war."

Tobias findet es toll, dass die Anzahl der Drag Queens in den letzten Jahren zugenommen hat. Ganz offenbar hat die erreichteNormalisierung nicht zum völligen Verschwinden dieser Kultur geführt. Im Gegenteil: Seit Beginn der 2010er-Jahre erlebt Drag national und international einen regelrechten Aufschwung.

Drag Queens machen sichtbar, was, vielleicht ähnlich wie die Bilder einer Pride, die Tobias auf Wikipedia damals fand, jungen Menschen zeigt, dass es eine Welt gibt, die ihren inneren Bildern und Sehnsüchten entspricht und sie damit nicht alleine in der Welt stehen.

Sein Engagement als Drag Queen war für Tobias auch der Einstieg in den Verein Milchjugend. Dieser war 2012 gegründet worden, um der, wie die Gründer*innen das provokativ nannten, "falschsexuellen Jugend", eine Zeitschrift, das Milchbüechli, zur Verfügung zu stellen. Sie fanden, dass sich queere Welten und Identifikationsorte zunehmend ins Internet verlagerten und wollten dem ein Angebot in der physischen Welt entgegenstellen.

Altershalber Rücktritt aus Milchjugend

Auf der Website der Milchjugend sind verschiedene Theorien nachzulesen, wie die Milch in die ganze Geschichte kam. Tatsächlich entstanden später weitere falschsexuelle Welten, die die Milch im Namen trugen und tragen. Milchbüechli, Milchbar, Milchreise, Molke-7-party sind einige davon. Die Milchjugend war eine Gegenbewegung zur um sich greifenden Normalisierung, wie oben beschrieben, die für queere Menschen dieselben Rechte und Pflichten wie für alle einforderte. Die Milchjugend sprach junge Menschen an, indem queere Identitäten stolz zelebriert wurden, und stellte ihnen wichtige Identifikationsmittel fürs Coming Out zur Verfügung. Mehr zu den ersten Jahren präsentierte Ernst Ostertag im Newsletter 146 der Schwulengeschichte mit dem Text von Ruben Ott.

2013, ein Jahr nach der Gründung des Vereins Milchjugend brachte Tobias Mona Gamie ins Vereinsleben ein, noch ein Jahr später übernahm er die Leitung der Redaktion des Milchbüechli. Ab 2017 war er schliesslich im Vorstand tätig, bis er 2022 von seinen Ämtern zurücktrat: Altershalber, wie er schmunzelnd sagt.

Ein vielfältiges Engagement also, das 2009 mit einem warmen Gefühl im Bauch beim Anblick eines Wikipedia-Beitrags seinen Anfang nahm.