184 - Unsere Geschichte sichtbar machen / Ivan Madeo
Queer Officers
Newsletter 184
April 2025
Diese Ausgabe enthält die folgenden Themen:
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Unsere Geschichte für alle sichtbar machen
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Der Golden Apple 2025 geht an: ...Ivan Madeo!
Unsere Geschichte für alle sichtbar machen
hpw. Vor gut 15 Jahren ging die Website schwulengeschichte.ch online. Eigentlich war ein Buch geplant. Doch was wäre aus einem Buch geworden? Wie viele würden es heute noch aus dem Büchergestell ziehen oder aus der Bibliothek holen, um etwas über unsere Geschichte zu erfahren? Unsere Website hingegen wird jährlich rund 45'000 Mal besucht. schwulengeschichte.ch erhält unsere Geschichte im Gedächtnis der Menschen. Sie macht sie zugänglich. Sie ist aber auch nicht statisch, im Gegensatz zu einem Buch. Eine Website kann laufend mit neuen Erkenntnissen erweitert werden, neue Entwicklungen können jederzeit einfliessen. Auf 2380 Seiten sind schon viele spannende Geschichten festgehalten. Doch es gibt noch so viel zu berichten. Packen wir’s zusammen an.
Ganz viel kam in den letzten Jahren dazu
Vor zwei Jahren stellten wir an der GV des Vereins das queere Universum vor, das noch abzubilden wäre. Wir haben in unseren Archiven gestöbert und sogar noch einige zusätzliche Entwicklungsmöglichkeiten gefunden. Einiges wurde auch schon umgesetzt. So ging im letzten Monat der Bereich "Schwul im Militär" online. "Homosexualität und Militär" stand definitiv auf der Ideenliste im Archiv. Die Geschichte des Filmfestivals Pink Apple beispielsweise ist auch bereits auf der Website zu finden.
Viel hat sich getan bei den Biografien. So illustrieren Texte über Ettore Cella, Paul Burkard, Derrick Olsen, André Ratti oder Alexander Ziegler die Lebenswirklichkeiten schwuler Männer in anderen Zeiten. Doch auch Namen, die damals nicht auf die Liste gesetzt wurden, können jetzt auf schwulengeschichte.ch gefunden werden: René Hubert, Fritz und Paul Sarasin, Patrick Schedler, Fred Spillmann oder Bernhard Vogelsanger.
Sportler und Politiker fehlen noch
Vor 25 Jahren fanden in Zürich die Eurogames statt. Auf unserer Website fehlen Informationen zu schwulen Sportvereinigungen noch fast vollkommen. RainbowSport in Zürich feiert dieses Jahr ein Jubiläum. Ähnliche Organisationen gibt es in Basel oder Bern. Es wäre schön, ihre Entwicklung auf schwulengeschichte.ch zu finden - oder auch etwas über schwule Männer im Sport.
Und wie steht es um queere Menschen in der Politik? Was geschah, bevor Zürich eine lesbische Stadtpräsidentin und einen schwulen Hochbauvorsteher bekam? Vor 40 Jahren wagten sich die ersten offen schwulen Männer auf Wahllisten. Vor 40 Jahren war eine andere Zeit. Es ist wichtig, sich dessen in unserer schnelllebigen Zeit bewusst zu sein, denn wie werden wir in 20 Jahren auf heute zurückblicken? Wie können wir dann verstehen, warum die Welt ist, wie sie ist, wenn wir uns nicht mehr daran erinnern, wie sie früher war und woher wir kommen?
Aids und die Community
Die tiefgreifenden Auswirkungen der Aids-Pandemie auf unsere Community dürfen nicht vergessen werden. Die Erfolgsgeschichte der Prävention ist auf unserer Website dokumentiert. Viele unter uns haben aber während der Aids-Krise ihren gesamten Freundeskreis verloren, bei anderen ist das ganze Geschäftsnetzwerk weggebrochen, etwa bei Menschen, die in der Mode arbeiteten. Diese Themen werden nur am Rand beleuchtet - das Ausmass dieser Katastrophe kann sich heute kaum mehr jemand vorstellen. Doch es muss unbedingt in unserem Bewusstsein bleiben.
Film, Fernsehen und Radio
Schwule in den Medien geht über die Telearena oder André Rattis Auftritt an der ersten Medienkonferenz der Aids-Hilfe Schweiz hinaus. Diese beiden Ereignisse sind auf schwulengeschichte.ch beschrieben. In der Themenliste unseres Archivs fanden wir den Hinweis auf die Sonntagabend-Soap Motel, damals ein Skandal. Da gab’s die dreistündige Radiosendung Input auf dem damaligen Sender DRS 3 im Jahr 1983, die erste Sendung des öffentlichrechtlichen Radios und Fernsehens, bei der keine Psychologen oder andere Experten über uns redeten, sondern einfach vier junge Schwule aus ihrem Leben erzählten. Oder was ist zu denken von der Abbildung mann-männlicher Sexualität und queerer Identitäten im Schweizer Film?
Schritte aus dem Ghetto
1989 wagten sich Schwule erstmals aus dem angestammten Ghetto der Schwulenszene. Auf dem Areal des damals besetzten Kanzleischulhauses fand die Veranstaltung "20 Jahre Stonewall - 20 Tage lesbischwule Kultur" statt. Hier traf man sich zu Filmvorführungen, Lesungen, Konzerte, Partys während weit mehr als 20 Tagen. Der schwule Männerchor Schmaz entstand in der Folge, inspiriert durch den Auftritt des Kölner schwulen Männerchors Triviatas in der Kanzlei-Turnhalle.
Es war ein Paradigmenwechsel. Man verblieb nicht mehr im Safe Space, sondern ging raus aus der Schwulenszene - und wollte sichtbar sein für alle. Es war nicht so, dass wir Schwulen in diesen alternativen Kreisen mit offenen Arme empfangen worden wären. Auch diese Erfahrung sollte in Erinnerung bleiben. Trotzdem entstand etwa die Dampfbar im Provitreff. Wir kennen und lieben diesen Mittwochabend noch heute unter dem Namen Heldenbar, dazwischen hiess die Reihe Persil. Es entstanden erst illegale Bars, beispielsweise Bronx oder Deposit. Langsam wurden die Gastronomie-Gesetze gelockert, wonach die grosse Zeit der Clubs Zürich begann, ausschliesslich schwul oder auch immer mehr gemischt, von Aera bis Laby. Die Clubszene hat massgeblich zur gesellschaftlichen Öffnung gegenüber Homosexualität beigetragen. Beim Partymachen zusammen verschwanden die Berührungsängste.
Und der Rest der Schweiz?
Noch fokussiert schwulengeschichte.ch stark auf die Entwicklungen, die in Zürich wichtig waren. In der ausgeprägt föderalistisch organisierten Schweiz kann davon ausgegangen werden, dass andere Regionen ähnliche oder eben ganz andere Geschichten zu erzählen hätten. In allen Kantonen entstanden schwule Organisationen, die regional unterschiedlich agierten. Da waren überall engagierte Menschen, die sich exponierten und vielleicht ihre Karrieren aufs Spiel setzten im Kampf für mehr Vielfalt und Akzeptanz. Es wäre schön, auch das Lokalkolorit in diesen Geschichten auf unserer Website wiederzufinden.

Quellen vor dem Verschwinden retten
Auch mit diesen Themen sind noch lange nicht alle Geschichten erzählt. Diese Geschichten dürfen nicht vergessen werden, aber auch die Quelldokumente nicht verloren gehen. Während schwulengeschichte.ch eine Interpretation der Geschehnisse für alle zugänglich macht, sammelt das Schwulenarchiv die Quellen aus der Community. Sie bilden die Grundlage zur wissenschaftlichen Erforschung und Aufarbeitung der schwulen Geschichte. Auch unsere Website greift immer und überall auf diese Quellen zu. Noch fehlen im Schwulenarchiv grosse Teile der Dokumente zur jüngeren Geschichte schwuler oder queerer Aktivitäten. Sie befinden sich im Schrank oder auf den PCs der Akteure. Das Schwulenarchiv bittet alle Vereine oder Einzelakteure von heute und gestern, ihre Informationsbestände zu sichern und ins Archiv einzureichen.
Das tun wir gemeinsam
Wir sind gespannt darauf, ob ihr weitere Geschichten erlebt habt und zu erzählen wisst. Noch mehr gespannt sind wir darauf zu hören, wenn ihr eines dieser Themen oder einen Teil eines Themas aufarbeiten wollt. Der Verein schwulengeschichte.ch unterstützt euch dabei. Am einfachsten ist wohl der Einstieg über eine Biografie. Namen stehen bei uns genug auf der Liste: Claude Nobs, der Gründer des Montreux Jazzfestivals, Friedrich Glauser, Hugo Lötscher, Christof Geiser die Schriftsteller, Max Wiener, der Werber. Vielleicht liegt bei euch schon eine Geschichte in der Schublade. Besser, sie kommt zu uns, als dass sie verstaubt und in Vergessenheit gerät. Denn schwulengeschichte.ch verfolgt ein wichtiges Ziel: Damit unsere Geschichte nicht vergessen wird.
Schreibt uns auf info@schwulengeschichte.ch
Einen Überblick über die Themen und Personen auf unserer Website findet sich im Sach-Register
und im Personen-Register
Website des Schwulenarchivs Schweiz
Der Golden Apple 2025 geht an: ...Ivan Madeo!
dbr. Das queere Filmfestival Pink Apple vergibt dieses Jahr seinen Preis an den Filmproduzenten und Drehbuchautor Ivan Madeo für seine Verdienste um den queeren Film.
Vom 29. April bis zum 11. Mai findet auch dieses Jahr wieder in Zürich und Frauenfeld das queere Filmfestival Pink Apple statt. Seit 2015 vergibt das Festival einen Preis an Persönlichkeiten, die sich um das queere Filmschaffen verdient gemacht haben. 2024 wurde der ursprüngliche Name Pink Apple Festival Award in das knackige Golden Apple umgetauft. Preisträger waren in den vergangenen Jahren unter anderen Lionel Baier, Rob Epstein & Jeffrey Friedman, Eytan Fox und Rosa von Praunheim, alles Regisseure. Dieses Jahr wird jemand ausgezeichnet, der normalerweise eher im Hintergrund arbeitet, der Filmproduzent und Drehbuchautor Ivan Madeo.
Ivan Madeo leitet die 2009 gegründete Produktionsfirma CONTRAST FILM. Die Firma produziert, wie auf Ihrer Website zu lesen ist…
"…Filme mit Fokus auf eine internationale Auswertung. Die bisherigen Filme der CONTRAST-Produzenten werden von über 300 Festivals selektioniert, gewinnen über 70 internationale Preise und sind zweimal im Rennen um einen Oscar und einmal um einen Golden Globe."
Die noch junge Firma kann also schon ein beeindruckendes Portfolio vorweisen. Pink Apple schreibt in der Begründung zur Preisverleihung:
"Ivan Madeo ist nicht nur ein kreativer Kopf, sondern auch ein Netzwerker und Visionär, der den Schweizer Film versteht und als Filmproduzent prägt. Mit einem feinen Gespür dafür, gesellschaftlich relevante Themen in (queere) Geschichten zu verpacken und dabei Raum für aufstrebende und etablierte Regiepersonen zu schaffen, realisierte er filmische Meisterwerke wie 'Der Kreis' oder aktivistische feministische Essays wie 'Stray Bodies' zur körperlichen Selbstbestimmung."
Produzenten stehen normalerweise nicht im Rampenlicht, trotzdem ist ihr Anteil an einem Film absolut entscheidend. Man kann durchaus sagen, dass ohne Ivan Madeos immense Arbeit im Hintergrund u.a. die Geschichte von Röbi Rapp und Ernst Ostertag als Film DER KREIS nicht zustande gekommen wäre.
Ich habe letzthin Ivan Madeo anlässlich der Aufführung von "Im Schatten der Träume" im Rahmen der Filmreihe Queer Things, organisiert von Pink Apple, im Kino Riff Raff getroffen. Der Film erzählt die Geschichte von der lebenslangen Zusammenarbeit und Freundschaft des Texters Bruno Balz und des Komponisten Michael Jary, die unter anderem als Songwriter von Zarah Leander tätig waren. Auch an diesem Film war Ivan als Hauptproduzent beteiligt, was mich doch erstaunte, denn im vergangenen Jahr hat CONTRAST FILMS noch zwei weitere Filme produziert. Dazu meinte er, mit einem Augenzwickern:
"Na ja, wie meistens, wenn etwas Queeres in der Schweiz produziert wird, bin ich oft dabei."
Tatsächlich hat Ivan Madeo seit einigen Jahren einen wesentlichen Anteil daran, dass queeres Leben im Schweizer Film sichtbar ist. Darum, so sind wir überzeugt, hat er den Golden Apple mehr als verdient.
Die Preisverleihung findet am Donnerstag, 1. Mai, um 18 Uhr in Zürich im Filmpodium statt. Während des Festivals werden einige Filme, die er produziert und teils auch mitgeschrieben hat, in seiner Anwesenheit gezeigt.
DER KREIS, Uraufführung an der Berlinale - Teil 4, Newsletter 181, Januar 2025
Alle Informationen zu Pink Apple
Website von CONTRAST-Film
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