1794-1994

Der §175 im deutschen Recht

Als er 1794 im Königreich Preussen eingeführt wurde, löste der §175 die Todesstrafe ab. Es setzten sich damit - fünf Jahre nach der Französischen Revolution - fortschrittliche Gedanken der Aufklärung und des Humanismus durch; nicht so radikal jedoch wie in Frankreich. Die Bestrafung blieb. Und sie blieb für volle 200 Jahre. Ab 1871 galt der §175 im gesamten deutschen Staatsgebiet (II. Deutsches Kaiserreich).

Die Praxis der Bestrafung allerdings änderte sich in dieser Zeit mit den Änderungen in der Geschichte Deutschlands: Vom Kaiserreich zur Weimarer Republik (nach dem Ersten Weltkrieg, 1918), von dieser Republik zur Nazi-Diktatur (ab 1933), mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs (1945) zu den beiden Staaten BRD und DDR und schliesslich ab 1990 zum Deutschland der Gegenwart.

1933 versank Deutschland im Dunkel, was die Bestrebungen zur Anerkennung und Gleichberechtigung homosexueller Menschen betraf. Es herrschte das Schweigen und die Angst vor jedem Nächsten, Nachbarn, Verwandten. Und das dauerte fort auch nach Krieg und Hitler. De jure für weitere 24 Jahre, de facto noch weit länger. 

Von heute her - und aus der Schweiz gesehen - fast unverständlich erscheint die Beibehaltung der verschärften Hitler-§§ 175 und 175a in der BRD bis 1969. Es ist eine Fortsetzung des Unrechtstaates im vollen Einverständnis einer starken Mehrheit von Politikern, des Klerus aller Konfessionen und nicht zuletzt auch einer Mehrheit des Volkes.

Auswirkungen auf gewisse Politiker und konservative Kreise in der Schweiz hatte diese lange Beihaltung der Strafparagraphen 175 durchaus. In den Verlautbarungen dieser Kreise ertönte der Ruf nach "Ordnung" und erneuter Verschärfung unseres StGB stets mit dem Hinweis auf den deutschen "§175".

Ernst Ostertag, September 2010