1923-2005
Pierre Seel
… und Pink Cross
Ein anderes Zeugnis, das sofort berühmt wurde, ist der Bericht des Elsässers Pierre Seel,
"Ich, Pierre Seel, deportiert und vergessen".
Das Buch erschien 1994 in Frankreich und 1996 auf deutsch1.
Das Leben Seels ist ein Dokument der Hölle auf Erden. 1941 musste der damals 18-Jährige nach einem halben Jahr Haft im Elsässer KZ Schirmeck zusehen, wie die Hunde der SS-Schergen seinen gleichaltrigen Freund und Liebhaber zerfleischten bis nur noch Blut, Fetzen und Knochen vor ihm lagen. Das Buch ist ein Dokument des Grauens. Aber es ist noch viel mehr.
Seel wurde nach diesem traumatischen Erlebnis für kurze Zeit entlassen und nach Hause geschickt, aber nur, damit man ihn jederzeit wieder behändigen konnte. Ende März 1942 wurde er an die Ostfront zu den berüchtigten Partisanen-Einsätzen abkommandiert, um schliesslich, nach 1945, entlassen, identitätslos und völlig verstummt in einem ganz anderen Teil Frankreichs, in Toulouse, eine heimliche, total andere, neue Existenz zu beginnen. Er heiratete und gründete eine Familie. Alles Frühere blieb als "Schande" wie in einem dunkeln, mit schweren Steinplatten zugedeckten Grab versenkt.
Sein Zeugnis, sobald es als Buch vorlag, erschütterte, weil es der Öffentlichkeit zeigte, was die meisten Ehemaligen mit dem rosa Winkel zu Sprachlosen machte: Das von der Gesellschaft noch immer Verfemte, Geächtete, das damals der Grund war ihrer KZ-Haft unter deutscher Okkupation.
Eine Schlüsselstelle aus dem Buch, der Heimkehr nach dem Trauma im KZ Schirmeck2:
"Man erschoss mich nicht. [...] Warum hatten die Nazis mir die Freiheit geschenkt? Was würden sie jetzt von mir verlangen? [...]"
Nachdem er verhaftet war und
"ich meine Familie verlassen hatte, musste sie erfahren, dass ich ein Schweinehund war. Wie würden meine Eltern reagieren, so katholisch und auf den guten Ruf bedacht, wie sie es waren? Würden sie mich aufnehmen oder nicht? [...] Wie konnte ich alles darlegen, wo ich mich doch verpflichtet hatte, Schweigen zu bewahren?
[...] Die Familie sass beim Abendessen. [...] Ich durfte mich zu den Meinen setzen. Die Mahlzeit wurde schweigend fortgesetzt. [...] Es war der 6. November 1941. Mit einem Schlag wurde ein doppeltes Geheimnis versiegelt: Das erste galt dem Nazi-Terror, das zweite der Schande, meiner Homosexualität. Von Zeit zu Zeit glitt ein Blick zu mir, voller Fragen über mein ausgemergeltes Aussehen. Was war in den sechs Monaten aus mir geworden? Ich war also homosexuell? Was hatten die Nazis mir angetan? Warum hatten sie mich frei gelassen? Niemand stellte diese ganz natürlichen Fragen. Wenn aber jemand sie gestellt hätte, hätte ich antworten müssen, dass ich gezwungen sei, mein doppeltes Geheimnis zu bewahren. Ich habe vierzig Jahre gebraucht, um diese stummen Fragen zu beantworten."
Die schweizerische Dachorganisation Pink Cross meldete am 29. November 2005 den Tod Pierre Seels und fügte bei:
"In den Jahren 2000 und 2001 konnte PINK CROSS ihm und sechs weiteren Überlebenden der Schwulenverfolgung durch Hitler-Deutschland Geld aus dem Internationalen Hilfs-Fonds für Nazi-Opfer (INPF) überweisen."
Am 23. Februar 2008 benannte die Stadt Toulouse eine ihrer Strassen "rue Pierre Seel".
Ernst Ostertag, Mai 2008
Weiterführende Links intern
Quellenverweise
- 1
Pierre Seel: "Ich, Pierre Seel, deportiert und vergessen". 1994 in Frankreich erschienen und 1996 auf deutsch im Jackwerth Verlag, Köln
- 2
Pierre Seel: "Ich, Pierre Seel, deportiert und vergessen", 3. Kapitel, Seite 57 ff