StGB: Eidgenössisches Strafgesetzbuch

Referendum und Abstimmungskampf

Am 1. Dezember 1937 war das neue StGB von den Eidgenössischen Räten bereinigt und endlich endgültig abgeschlossen worden. Dagegen ergriffen politisch und gesellschaftlich konservative Kreise und die christlichen Parteien und Gruppierungen sofort das Referendum und wurden dabei durch alle Kirchen offiziell unterstützt, vor allem in der Ablehnung des uns betreffenden Artikels. Unter der Überschrift "Sturmzeichen" schrieb Max Rüedi dazu einen "Aufruf an alle"1:

"Der Kampf ist angesagt. Das Referendum [...] ist aufgenommen worden. [...] Wahrscheinlich wird man über den Weg der Kantönli-Wirtschaft, der kirchlichen Engherzigkeit und des politischen Rowdytums jeder Schattierung versuchen, die wissenschaftliche Arbeit von 40 Jahren zunichte zu machen. Das muss mit allen ritterlichen Waffen des Geistes verhindert werden. Zugegeben: [...] Das Schicksal einer kleinen Minderheit der Gesamtbevölkerung wird die Frage von Ja und Nein nicht allein beeinflussen. [...] Aussenstehende werden auch kaum erwähnen, dass bereits um die Mitte des vorigen Jahrhunderts ein biederer Schweizer, Heinrich Hössli in Glarus, eine grossangelegte Verteidigung der griechischen Männerliebe geschrieben hat, lange bevor die 'ausländische Invasion der Homosexualität die ruhsame Schweiz überflutet hat'! [...]

Darum ist es für jeden denkenden Homoeroten notwendig, in diesem Jahre, das über das Menschenrecht von Generationen entscheiden wird, bereit zu sein für die Verteidigung seines Lebensgefühls. [...] Wenn der Schweizer sich ein Urteil bilden will, so liest er auch heute noch meistens zwei ideologisch völlig entgegengesetzte Zeitungen. [...] Er hört sich beide an. [...] Und so dürfen wir auch in unserer Sache - mag sie einstweilen noch so prekär aussehen - dem demokratischen Sinn unserer Mitbürger vertrauen. Durch den Hinweis auf eine von den höchsten schweizerischen Behörden anerkannte wissenschaftliche Arbeit2 vergeben wir uns ja nichts, demaskieren wir uns noch nicht.

[...] Eine Verteidigungsformel aber sollte jedem [...] geläufig sein; Prof. Dr. Eugen Bleuler hat sie in seinem 'Lehrbuch der Psychiatrie' geprägt:

'Der echte Homosexuelle ist nicht krank. [...] Er ist zurechnungsfähig. Die ethischen Gefühle und die Intelligenz sind ebenso nuanciert und verschieden wie beim normalen Menschen.'

Diese lapidare und alles Wesentliche umschliessende Formel sollte jedem Wähler mitgeteilt werden können. [...] In dem uns zugemessenen Leben wird kaum noch einmal ein Jahr von derartiger Tragweite für unser Schicksal auf der Weltenuhr erscheinen."

Karl Meier fasste einen erläuternden Vortrag zusammen, den ein Rechtsanwalt im Klubraum über das StGB hielt und verband ihn mit dem Aufruf zur aktiven Stimmbeteiligung: "Vor der Entscheidung!"3

"Es gibt Tage im Leben des Einzelnen und in der Geschichte eines Staates, die über Jahrzehnte, über ein Jahrhundert entscheiden. Was in einer solchen Schicksalsstunde versäumt wird, büssen nachher Generationen. So wird der 3. Juli 1938 dem erwachsenen Homoeroten - entweder das Kainszeichen des sittlichen Verbrechers von der Stirne wischen oder - es ihm noch tiefer einbrennen, wenn die Mehrheit des Volkes die schweizerische Strafrechtseinheit verwirft! [...]

In unserem Kreise referierte am 1. Juni Herr Dr. Ernst Rüegg, der ausgezeichnete zürcherische Rechtsanwalt. [...] Er entwickelte in mehr als einstündiger Rede den Gedankenbau des neuen eidgenössischen Strafgesetzes. Die grundlegende Idee - Keine Strafe ohne Schuld - ist bei der Behandlung aller Fragen, nicht nur den uns berührenden, in erfreulichem Masse gegen dogmatisch-kirchliche und kleinbürgerliche Vorurteile durchgedrungen. [...]

[...] Man braucht nur über die Grenzpfähle4 zu blicken und zu hören - und jeder Artkollege wird hoffentlich wissen, wie sein Stimmzettel am 3. Juli auszusehen hat. Jeder Einwand ist angesichts dieser Vergleiche sofort hinfällig.

An das Referat schloss sich eine Diskussion [...] über zwei Stunden, die in unserem Klubraum noch selten so anregend verliefen, [...]."

Ernst Ostertag, August 2004

Quellenverweise
1

Max Ruedi, evtl. ein Pseudonym: Menschenrecht, Nr. 3/1938

2

Prof. Dr. Ernst Hafter: "Homosexualität und Strafgesetzgeber" in Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht, Bd. 43, 1929, Seiten 37 bis 71

3

Karl Meier unter dem Pseudonym Rudolf Rheiner: Menschenrecht, Nr. 9/1938 vom 15. Juni

Anmerkungen
4

Mit dem überfallähnlichen "Anschluss" Österreichs ans III. Reich am 13. März 1938 wurden bei uns Tausende endlich und wirklich wachgerüttelt