1942
Menschenrecht
Am 1. Januar trat das neue Strafgesetz in Kraft und damit auch alle Kompromisse, die bei seiner Entstehung eingegangen wurden: Homosexuelle haben nun was sie wollten, jetzt sollen sie still bleiben und die Öffentlichkeit nie mehr belästigen!
Das so entstandene Tabu "Homosexualität" schuf die Spaltung
- in jene, die unauffällig-angepasst ein "normales" Leben führten, das stets ein Doppelleben war, weil sie nur in verborgenen Ghettos ihre andere, die "unanständige" Seite leben konnten
- und in jene Mutig-Trotzigen, die sich wenig um Konventionen kümmerten, es sich, etwa als Künstler, auch leisten konnten
- sowie in alle Gefallenen, die, irgendwo aufgegriffen, in Strafprozesse verwickelt oder von Strichjungen etc. erpresst und ruiniert wurden.
Zu dieser letzten Gruppe gehörten, wenn erwischt oder Opfer geworden, alle, viele der "Anständigen" wie der Unbekümmerten.
Unheilvolle juristische Kompromisse im StGB wirkten sich für viele Homosexuelle direkt existenzgefährend aus: Das Verbot männlicher Prostitution, das ungleiche Schutzalter für junge Männer (20) und Frauen (18) und vor allem der unscharfe Begriff einer strafbaren "Verführung" Minderjähriger zu homosexuellen Akten. Karl Meier / Rolf erklärte in aller Ausführlichkeit und mit vielen Zitaten diese neue Rechtslage und dehnte seinen Beitrag in Fortsetzungen über fast alle Hefte des Jahres aus.
Es bildeten sich "Tischrunden" von Abonnenten; sie nannten sich "Kreis" oder "Kreise". Anna Vock übertrug auf Jahresbeginn die Herausgabe der Zeitschrift an Karl Meier, welcher dazu einen Verlag Der Kreis gründete. Somit zeichnete sich ab, was er im Dezemberheft bekanntgab: Nach zehn Jahren Freundschafts-Banner und Menschenrecht war, der Zeit entsprechend, etwas Neues fällig, ein Kreis von verantwortungsvoll ihre besondere Art lebenden Männern mit Niveau und eine zweisprachige Zeitschrift Der Kreis - Le Cercle.
Der Zeit zu entsprechen hiess eben auch, eine Insel zu sein. Darum schloss die letzte Nummer des Menschenrecht mit einem Wort des Schweizer Schriftstellers Heinrich Federer:
"Lasset also den Schweizer! Und glaubt mir; es braucht nicht nur Mut im Sturm, es braucht auch Mut, eine Insel im Sturm zu sein."
Denn in diesem Jahr stand der Weltkrieg rundum auf seinem Höhepunkt. Es war die grösste Ausdehnung der Mächte erreicht, die ihn entfesselt hatten und um das Jahresende wurden die entscheidenden Schlachten zur Wende geschlagen, jene von El Alamein in der ägyptischen Wüste und jene von Stalingrad vor den Steppen Asiens. Auch darüber berichtete das Heft, unter anderem mit erschütternden Gedichten von der Front.
Trotz allem, man feierte ein frohes Sommerfest und liess es im Menschenrecht nachklingen, auf deutsch wie französisch. Und zum ebenso frohen Herbstfest erschienen zweisprachige Leserkommentare.
Wissenschaftliches füllte die drei Ausgaben vom August bis zum Oktober mit der Überschrift "Versuch einer Erklärung der Homoerotik"; keine leichte Kost, verfasst von einem bekannten Mediziner.
Die nun folgenden Texte zur Weiterführung der Zeitschrift stehen im Teil 4 DER KREIS und bilden dort den Anfang.
Ernst Ostertag, September 2010