1957
Rückblick
... auf das Jubiläumsjahr
An der Jahresversammlung vom 1. Juni 1958 verlas Karl Meier / Rolf seinen Bericht, den er im Kreis auch veröffentlichte1. Die in einigen Abschnitten ausführlichere erste Fassung fand sich als Manuskript im Nachlass von Charles Welti:
"Es ergab sich ein Zuwachs von 192 Lesern, sodass wir jetzt etwas über 1800 zahlende Abonnenten haben. [...]
Die Konkurrenz der französischen 'Arcadie' macht [...] eine Werbung für unseren begrenzten französischen Teil sehr schwer. Nach wie vor meldet sich aus der Westschweiz kaum einer, der brauchbare Beiträge beisteuert.
Rudolf ist es gelungen, eine ganze Anzahl von Autoren und Mitarbeiter für den englischen Teil heranzuziehen. [...] Aber auch da besteht die Konkurrenz von ONE und Mattachine Review. Trotzdem gibt es in den Staaten eine steigende Anzahl von Kameraden, die [...] auch den Kreis abonnieren. Deutschland hält daneben [...] so ziemlich die Waage. Unsere Zeitschrift ist nicht mehr denkbar ohne ihr dreisprachiges Gesicht, so bildet sie die beste Brücke zwischen den Sprachen und Ländern. [...]
Eine kleine Sonderausgabe [...] muss noch erwähnt werden: die Zusammenfassung von Pressestimmen und Kommentaren zum Wolfenden-Report in England, die Rudolf ausgezeichnet übersetzte und zu einer ansprechenden Broschüre zusammenstellte. Wir hofften damit auch einen kleinen Beitrag für die Kameraden in Deutschland und Österreich zu leisten. Die Broschüre könnte an massgebende Stellen in beiden Ländern verschickt werden. Leider blieb ihr der erhoffte Erfolg versagt.
Es ist immer wieder das alte Lied: für Veranstaltungen und Tanzmöglichkeiten ist überall grosses Interesse vorhanden, für einen stetigen und sachlichen Kampf gegen veraltete Gesetze und Vorurteile dagegen herzlich wenig. Man erwartet nur, dass die anderen die Kastanien aus dem Feuer holen - selber möchte man sich auf keinen Fall auch nur den kleinen Finger verbrennen. Eine traurige, aber leider jahrzehnte lange Erfahrung.
Am Silvesterabend gab es noch eine wenig liebliche Überraschung: ein taktloser Journalist der Zürcher Woche nannte im Zusammenhang mit dem zweiten Mordfall den KREIS und erwähnte so 'geschmackvoll' es ihm nur möglich war, dass wir einen Silvesterball [...] abhielten usw.
Die Hervorzerrung unseres Namens und unserer Vereinigung an die Öffentlichkeit war seit den Tagen der Skandalblätter Scheinwerfer (1934) und Guggu (1936) nie mehr geschehen. Ich ging sofort zur Sittenpolizei, um den Silvesterball zu annullieren und, wenn derartige Presseangriffe weitergingen, den KREIS aufzulösen. Aber da erfuhr ich eine korrekte Haltung der Behörden, die im KREIS eine auch für sie annehmbare Lösung eines homoerotischen Treffpunkts sehen. Das war trotz des erlittenen Faustschlags eine erfreuliche Bestätigung unseres eingeschlagenen Weges. [...]"
Ernst Ostertag, Juni 2005