1957

Wolfenden-Report

In der Oktober-Ausgabe 1957 begann Rudolf Jung / Rudolf Burkhardt seinen spannenden zwölfseitigen Bericht zum Streit um den eben herausgekommenen Wolfenden Report8. Er setzte den Titel "Der Sturm bricht los". Der Bericht brachte Zitate aus britischen Zeitungen, die Rudolf mit seinen Kommentaren verband und zusammenfasste1.

Im französischen Teil derselben Nummer berichtete Daniel Spahni unter dem Pseudonym Scorpion über die Reaktionen und Kommentare in der welschen und französischen Presse und setzte vor seine einführenden Worte die Überschrift "Remous chez Albion"2.

Die Kreis-Redaktion erachtete das Ganze als enorm wichtig. Gewisse Kommentatoren zogen den logischen Schluss, dass sich ein Staat mit solchen Gesetzen und den sich daraus ergebenden Prozessen lächerlich mache und seine Autorität untergrabe. Diese Erkenntnis wurde auch in Deutschland gezogen, wo das Geschehen in Grossbritannien ebenfalls aufmerksam verfolgt wurde. Alles zusammen war zugleich ein warnender Hinweis auf die Lage in der Schweiz, wo repressive Kräfte sich zu sammeln begannen und sogar vereinzelt der Ruf nach einer Verschärfung des StGB ertönte.

So war es nicht verwunderlich, dass der Kreis seine Leser auch weiterhin regelmässig informierte. Im Dezember 1958 brachte Rudolf Jung / Rudolf Burkhardt die Übersetzung eines Berichtes aus dem Spectator3: "Die Wolfenden Debatte im Unterhaus" und den Brief des Sekretärs der "Homosexual Law Reform Society" an die Times. Der Inhalt dieses Briefes betraf ebenfalls den "Wolfenden Report"4. In der nächsten Ausgabe vom Janaur 1959 stand der gesamte deutsche Teil unter dem Titel "Debatte im englischen Unterhaus" mit vielen Beispielen von Auswirkungen und entsprechenden Kommentaren. Auch die letzten Seiten des englischen Teils waren einem Artikel aus The New Statesman, London, gewidmet: "Homosexuals and the Law"5.

Als "neues, wichtiges Buch" wurde folgerichtig im August 1960 jenes Werk von Gordon Westwood, "A Minority", ausführlich vorgestellt, zu welchem Zuschriften von Abonnenten des Kreis 1957 beigetragen hatten. Der Band war mit einem Vorwort von Sir John Wolfenden versehen. Das verlieh ihm besonderes Gewicht. Rudolf schloss seine Besprechung6:

"Das Buch erscheint gerade zu einer Zeit, als im englischen Unterhaus die Vorschläge des Wolfenden Reports zur Freigabe des männlichen Erwachsenenverkehrs mit 213 zu 97 Stimmen abgelehnt wurden. [Nach anderen Quellen 'zu 99'] Aber im nicht abreissenden Kampf um die gesetzlichen Rechte oder um die gesellschaftliche Anerkennung einer Minderheit bildet das neue Buch von Gordon Westwood einen wertvollen Beitrag [...]."

Unter "Book Review" stand auch eine Besprechung desselben Buches in englisch, zitiert aus dem Statesman7.

Wie prekär die Lage in England weiterhin war, zeigte der Bericht in der Berner Zeitung Der Bund vom 6. Juni 1965, "England diskutiert eine heikle Frage, Ist Homosexualität ein kriminelles Delikt?":

"[...] Es ist vielleicht erwähnenswert, dass jeder widernatürliche Geschlechtsverkehr in England bis zum Jahre 1928 noch mit dem Tode bestraft wurde. [...] Im Jahre 1963 [...] fanden 836 Prozesse wegen Homosexualität statt und 63 Angeklagte wanderten ins Gefängnis. Zwei Drittel von diesen hatten das Delikt mit anderen Erwachsenen und hinter ihren vier Wänden begangen, und fast alle waren die Opfer von Denunzianten."

Erst 1967 wurde die Kriminalisierung von sexuellen Akten unter Männern nach vollendetem 20. Lebensjahr (also mit 21) aufgehoben. Damit hatte England zwei Jahre vor der BRD eine wesentliche Änderung durchgeführt (die übrigen Teile des Vereinigten Königreichs, Schottland, Wales und Nord-Irland folgten noch später).

Und ein Blick auf Frankreich: Die Fünfte Republik de Gaulles verschärfte ihre von der Nazi-freundlichen Vichy-Regierung (1940-1944) übernommenen Strafparagraphen nochmals 1960, bis sie endlich 1982 durch Präsident François Mitterrand (SP) fielen.

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Ernst Ostertag, März 2005, ergänzt November 2010

Quellenverweise
1

Der Kreis: Nr. 10/1957, S.2 ff

2

Der Kreis: Nr. 10/1957, S.22 bis 28)

3

Rudolf Jung unter dem Pseudonym Ernst Ohlmann: Der Kreis: Nr. 12/1958, Seite 15, Übersetzung eines Berichtes aus dem Spectator vom 31.10.1958: "Die Wolfenden Debatte im Unterhaus"

4

Der Kreis: Nr. 12/1958, Seite 48

5

Der Kreis: Nr. 1/1959

6

Der Kreis: Nr. 8/1960, Seiten 2 bis 5

7

Der Kreis: Nr. 8/1960, Seite 35

Anmerkungen
8

Der britische Gelehrte Sir John Wofenden (1906-1985) leitete ab 1954 das 15 Personen umfassende "Departmental Committee on Homosexual Offences and Prostitution", genannt Wolfenden Komitee zur Befragung von Betroffenen. Die Veröffentlichung des Reports erfolte 1957. Darin kam das Komitee zum Schluss, homosexuelles Verhalten unter einwilligenden Erwachsenen im privaten Bereich sollte nicht länger als krimineller Verstoss zu ahnden sein.