1910-1986
Jean Genet: Exkurs
Genet ist der Name seiner Mutter. Sie gebar Jean in Paris. Den Vater kannte er nie. Sie übergab ihn der Fürsorge, und die brachte den Jungen in eine Familie auf dem Land. Ein Geistlicher lehrte ihn lesen. Mit 13 machte er den besten Schulabschluss des Dorfes. Da starb seine Pflegemutter.
Jean Genet will ein Heiliger werden, "denn wie die Schönheit und die Poesie steht die Heiligkeit ganz auf sich allein". So drückt er es 1949 im Roman "Journal du Voleur" (Tagebuch eines Diebes) aus.
Mit 14 entweicht er - wieder in Paris - der Enge einer ungeliebten Berufslehre, begeht Diebstähle, wird ins Heim, später in Gefängnisse gesteckt, immer und immer wieder. Mit 15 kommt er ins berüchtigte "Maison de Correction Mettray" in der ehemaligen Abtei Fontevraud südöstlich von Saumur. "1804-1963 eines der härtesten Gefängnisse Frankreichs", wie es in einem neuen Prospekt über die renovierte Abtei heisst ("Pays de la Loire", 2012 ). Er entweicht auch dort wieder und schreibt in seinem Roman "Miracle de la Rose" (erschienen 1946):
"De toutes les centrales de France, Fontrevrault est la plus troublante. C'est elle qui m'a donné la plus forte impression de la détresse et de désolation, et je sais que les détenus qui on connu d'autres prisons, ont éprouvé, à l'entrendre nommé même, une émotion et une souffrance comparable."1
Genet lebt unter vielen falschen Namen, stiehlt, prostituiert sich, wird zwischen 1937 und 1943 dreizehnmal verurteilt und eingesperrt. 1942 schreibt er ein Gedicht über einen als 20-Jähriger hingerichteten Mörder. Im Gefängnis hatte er diesen Menschen geliebt. Das Gedicht nennt er "Le condamné à mort".
Das Manuskript gelangt in die Hände von Jean Cocteau, der sofort reagiert und der Öffentlichkeit mitteilt: "Hier haben wir ein neues Genie!" Zusammen mit Jean Paul Sartre sendet er eine Bittschrift an den Staatspräsidenten, er solle Genet begnadigen. Sartre und Pablo Picasso bieten sich an, für Genet ins Gefängnis zu gehen. Der Bitte wird entsprochen, der Gefangene begnadigt und entlassen.
Nun folgen in wenigen Jahren die Romane "Notre-Dame-des-Fleurs" (1944, deutsch 1960), "Miracle de la Rose" (1946, deutsch 1963), "Querelle de Brest" (1947, deutsch 1955) und die Dramen "Les Bonnes / Die Zofen" (1947 / deutsche Erstaufführung 1957), "Haute surveillance / Unter Aufsicht" (1949 / 1960), "Le balcon / Der Balkon" (1957 / 1959), "Les nègres / Die Neger" (1959 / 1964) u.a.
Werke von Genet waren rasch Geheimtipps in homosexuellen Zirkeln. Viele reagierten mit Empörung und Abscheu, lasen sie aber heimlich mit heisser Inbrunst, denn sie wirkten wie Pornos, die es damals noch nicht gab
1950 brachte der Kreis im französischen Teil einen Bericht über Genets Kurzfilm "Chant d'Amour". Dies kurz nach der Filmpremiere.
Fünf Jahre später gab es am KREIS-Büchertisch die erste - limitierte - Ausgabe von "Querelle de Brest" in deutscher Sprache zu kaufen.
Doch erst 1960 setzte eine engagierte pro und contra Diskussion im deutschen Teil der Zeitschrift ein. Auf sie wird in den Unterkapiteln "Auseinandersetzung" und "Querelle de Brest" eingegangen.
1963 erschien im französischen Teil ein fundierter Essay über "Querelle de Brest", Genets wichtigsten Roman.
Ein "faszinierender Stachel" blieb Jean Genet weit über seinen Tod hinaus. Das zeigt sich im Nachruf, den das soh-info (Blatt der Schweizerischen Organisation der Homosexuellen, SOH) im Oktober 1986 veröffentlichte - und auch in der Besprechung eines neuen Werks über den Dichter, erschienen in der NZZ vom 6. April 2004.
Ernst Ostertag, Juli 2012
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Anmerkungen
- 1
"Von allen Zentralgefängnissen Frankreichs ist Fontevraud / Fontevrault das zermürbendste. Es hat in mir das stärkste Gefühl von Not und Trostlosigkeit hervorgerufen und ich weiss, dass jene Häftlinge, die andere Gefängnisse gekannt haben, nur schon beim Erwähnen dieses Namens Angst und Leid empfanden, vergleichbar dem meinigen."