1963

Kein Hexenwahn!

"Ehekunde" und eine persönliche Begegnung

Im September 1963 zitierte Karl Meier / Rolf aus Theodor Bovets Band II, "Ehekunde, spezieller Teil"1:

"[...] Wenn es auch zutrifft, dass ab und zu ein Verbrechen homophile Hintergründe hat oder dass ein Homophiler, zumal in Ländern mit scharfen Strafbestimmungen, eher Gefahr läuft, erpresst und damit in eine Spionageaffäre verwickelt zu werden, so muss man sich davor hüten, solche Geschichten zu verallgemeinern. Wir stehen immer noch in Gefahr, einem modernen Hexenwahn zu verfallen. Dagegen gibt es homophile Kreise, die in ethisch unantastbarerer Weise versuchen, Homophile aus der Vereinsamung, in der sie so oft leben, herauszuhelfen, [...]. In den Ländern, wo die Homophilie nicht eo ipso als Verbrechen gilt, sind diese Organisationen durchaus nicht geheim und geben auch eine gut redigierte Zeitschrift heraus, wie Der Kreis, Zürich, aber sie wirken aus guten Gründen diskret, [...]. Eine solche Organisation ist für den einzelnen Homophilen ausserordentlich hilfreich, und sie wirkt bestimmt der Demoralisierung, Haltlosigkeit und Perversion entgegen. Die Öffentlichkeit hat also allen Grund, sie zu unterstützen."

Eine persönliche Bemerkung: Meine Eltern waren mit Theodor Bovet befreundet; er war gelegentlich bei ihnen zu Besuch. Dazu wurde auch ich (Ernst Ostertag) meist eingeladen, immer jedoch allein, ohne meinen Partner Röbi Rapp, den meine Eltern zwar kannten, aber noch immer ignorierten. Ich hatte natürlich den oben erwähnten Abschnitt im Kreis und den Essay in Reformierte Schweiz gelesen. Dabei waren mir etliche Fragen aufgestiegen. Aber ich getraute mich nicht, sie anzubringen. Das Thema war im Elternhaus tabu - ich hätte Vater und Mutter blossgestellt. Leicht hätte ich über den KREIS an Dr. Bovet  gelangen können, aber das damals noch tief verinnerlichte Tabu und die Angst vor eventuellen Konsequenzen hielten mich zurück.

Eigentlich war die Situation schizophren - oder pervers, wie Rosa von Praunheim sie fast zehn Jahre später nannte. Vor zwei Jahren (1961) hatte mich die Zürcher Polizei zum Eintrag ins Schwulenregister gezwungen und die Fingerabdrücke genommen. Und jetzt scheute ich das Gespräch mit diesem wohlwollenden Theologen aus Angst vor Eltern und Verwandten, vor verletzenden Reaktionen. Gleichzeitig sprach ich offen mit dem väterlichen Freund und Leiter des KREIS. Und ebenfalls gleichzeitig begleitete ich in seinem Auftrag einen hoch sensiblen, in Depressionen und Tablettensucht geratenen Kameraden bis an den Suizid und stand einige Zeit später am Grab als Unbekannter neben den Angehörigen, als Einziger von jener anderen Seite, die der Pfarrer soeben mit der "Sünde" brandmarkte, welche diesen Menschen zum Selbstmord geführt habe. Ich war noch nicht fähig, über all dem zu stehen. Viele Fragen, Trauer und Wut waren da, aber noch fehlte die Kraft zur Antwort, zum Aufbruch und Kampf.

Ernst Ostertag, März 2005

Quellenverweise
1

Der Kreis, Nr. 9/1963, Seite 9. Zitat aus Theodor Bovet: "Ehekunde, spezieller Teil", (Band II), Paul Haupt Verlag, Bern