Pulverfass

Christopher Street, 27. Juni 1969

Repression gab es nicht nur bei uns in der Schweiz. Das wusste man schon lange. Keiner hatte die Jahre McCarthys vergessen, in denen alles "Unamerikanische", Andersartige verfolgt wurde. In New York und anderen Städten der USA gab es weiterhin regelmässige und sehr brutale Razzien gegen Homosexuelle und ihre Treffpunkte.

Daneben war mit "Flower Power" und den Hippies eine soziale Neuorientierung und Protestkultur junger Menschen stark geworden. Indem sie sich anders kleideten, lange Haare trugen, völlige, auch sexuelle Freiheit lebten und dazu verbotene Rauschmittel gebrauchten, setzten sie bewusst den Unterschied zur bürgerlichen Norm. Zugleich gab es andauernde, landesweite Proteste gegen den Vietnamkrieg. Das führte zu einer nachhaltigen Verunsicherung des Establishments.

In diesem Klima und neben diesen Erscheinungen und Entwicklungen entstanden die grossen Bürgerrechtsbewegungen: jene der Schwarzen, der Farbigen überhaupt, und die der Frauen. Damit wurde in relativ kurzer Zeit Wesentliches in Bewegung gesetzt und erreicht.

All das wirkte auf die Homosexuellen Amerikas als Vorbild und Aufforderung, selber tätig zu werden. Besonders die schwarzen Militanten wurden zum Modell, weil sie eine Anpassung an die Mehrheit zurückwiesen und ihr Schwarzsein als besondere Kraft, als Ideal von Schönheit und Grund ihres Stolzes feierten. Hier lag ein Weg offen. Es brauchte nur noch den zündenden Anstoss.

Dieser geschah am Freitag, 27. Juni 1969, als die Homosexuellen-, Stricher- und Transvestiten-Bar STONEWALL INN an der Christopher Street im New Yorker Greenwich Village von plötzlich aufkreuzenden Polizeikräften zum dritten aufeinander folgenden Mal am Abend brutal überfallen wurde.

Die angestaute Wut war nun so gross, dass, obwohl viele Männer zunächst flohen, zurückgebliebene Tunten und Transvestiten ihre Stöckelschuhe auszogen und mit den Absätzen auf die Uniformierten einzuschlagen begannen, sich dann hinter der Bartheke verschanzten und von dort Flaschen als Wurfgeschosse benutzten. Im Weltbild eines Polizisten ist ein solcher Gegner kaum vorstellbar und wirkt zunächst lähmend.

In diesem Moment kehrten einzelne Männer zurück und eröffneten sozusagen eine zweite Front. Die desorientierten Hüter einer fraglichen Ordnung begannen zu fliehen, von wütenden Opfern gejagt. Zu diesen Opfern gehörten nebst den Tunten und Transvestiten auch andere Stammgäste: Lesben, homosexuelle Randständige, Arbeitslose, Strichjungen oder, wie es im Originalton hiess, "drag queens, dykes, street people and bar boys".1

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Ernst Ostertag, Oktober 2006

Quellenverweise
1

Barry D. Adam, The Rise of a Gay and Lesbian Movement, Seite 75, Boston 1987