1971

Praunheims Film

Neues Selbstbewusstsein

Die Zeit war reif. Einige Alte und vor allem die Jugend Europas übernahmen die Botschaften aus den USA, jene Stimmen der Befreiung, genährt aus einem neuen Bewusstsein der Eigenständigkeit: Schwarze, Junge, Frauen, Lesben und Schwule.

Studenten, "Linke", Autonome im Westen, die Aktiven des "Prager Frühlings" im Osten, alle wollten die Fesseln einer starr gewordenen Gesellschaft und politischen Ordnung sprengen. Für die Homosexuellen brauchte es noch einen sie betreffenden Anstoss.

Da erschien Rosa von Praunheim mit seinem ersten grösseren Film:

"Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt"

Dieser Satz öffnete jedem die Augen. Genau so ist unsere Wirklichkeit. Und die ist zu ändern:

  • Nicht wir sind die Fehlbaren, Perversen. Widernatürlich sind die Vorstellungen von uns, die Vorurteile über uns und die Vorschriften, wie wir zu leben haben. All das haben wir generationenlang integriert und uns zu Krüppeln machen lassen. Und so sind wir tatsächlich pervers geworden.
  • Nur wir können das ändern. Denn nur wir können und müssen ein eigenständiges, ein stolzes Selbstbewusstsein schaffen. Erst dann können wir hinaustreten und die nötigen Änderungen bewirken.
  • Wie wir die Mädchenfarbe rosa und den Schandwinkel der Nazi-Vernichtungslager zu unseren Selbstbezeichnungen gemacht haben, so wählen wir jetzt auch das Schimpfwort schwul. Wir nennen uns Schwule, entschlossen, mutig und stolz.
  • Wir haben unsere Augen geöffnet; wir reissen auch den anderen ihre Binden weg. Wir befreien uns; und wir befreien die anderen mit. Denn Vorurteile machen alle blind. Vorurteile machen alle unfrei. Das werden wir ändern!

Ernst Ostertag, April 2011