1985
Aids-Kranker berichtet
André Ratti
Das Tages-Anzeiger Magazin (TAM Nr. 33/1985) brachte einen Artikel von André Ratti mit dem Titel:1
"Du bekommst immer, was du brauchst. Meine Erfahrungen mit Aids".
Damit äusserte sich erstmals in der Schweiz eine prominente Persönlichkeit über seine Krankheit und zeigte ein realistisches, leicht nachvollziehbares Bild - auch des offenen, freien Umgangs mit der Krankheit:
"[...] Am 25. März dieses Jahres kam ich als Notfall ins Krankenhaus. [...] Ich weiss, wo ich bin. In der Intensivstation des Kantonsspitals Basel. Ich weiss, dass ich Aids habe und eine doppelseitige Lungenentzündung. [...] Der Chefarzt [...] sagte, er werde alles in seiner Macht Stehende tun, um mich durchzubringen, mit Aids jedoch müsse ich leben. Meine Lebenserwartung betrage statistisch gesehen zwei bis drei Jahre.
Ich blieb ganz ruhig: 'Du bekommst immer, was du brauchst.' Der Satz, den mir Elisabeth Kübler-Ross einmal sagte, kommt mir in den Sinn. Ich ergebe mich in die Krankheit. Ich akzeptiere sie. Ich bete und spreche zu Gott, der Mutter: 'Du hast mir das Leben gegeben, du hast mich dahin geführt, wo ich jetzt bin, du kannst es mir jederzeit wieder nehmen.' Ich fühle mich ganz ruhig - noch lebe ich. Es ist wunderbar. Ich bin sehr dankbar. [...]
Ich wurde operiert, man holte ein Stück Lunge heraus. [...] Ich weiss fast gar nichts mehr aus dieser Zeit, nur ab und zu die beiden besorgten Gesichter meiner Freunde, ihre Hände, die mit Gummihandschuhen die meinen hielten. Dann stand der Chefarzt wieder vor mir und sagte: 'André, du hast es überstanden. Ich gratuliere dir.' Die Lungenentzündung war weg. Ich dankte. Man brachte mich auf ein Zimmer, ganz oben im Gebäude.
Eine schmale, vermummte Schwester stellte sich vor: Iris. Sie würde sich jetzt um mich kümmern. Was sie auch tat, 12 Stunden am Tag: still, leise und mit grösster Kompetenz. Ich fühlte mich sehr schwach und hilflos. Die Schwester und ich sprachen viel miteinander. Das half. Viele Besucher kamen. Auch sie mussten sich vermummen - zu meinem Schutz. Ich hatte selbst, sobald ich konnte, alle Freunde und Bekannten angerufen und ihnen mitgeteilt, woran ich erkrankt war. Nur keine Gerüchte - Offenheit und Vertrauen. [...]
Die Frage tauchte auf: Wohin nach dem Spital? [...] Schwester Iris sagte eher beiläufig, sie kenne da im Tessin ein Erholungsheim, es sei zwar anthroposophisch. Man einigte sich, auch die Ärzte. [...]
Dort sagte der Arzt: 'So, jetzt sagen Sie mir mal, wer Sie sind und was Sie hier wollen.' Ich erzählte ihm mein Leben. Er schüttelte den Kopf und meinte nur trocken: 'Ein unmögliches Leben.' Ich war betroffen.[...] Dann fragte er: 'Was wollen Sie hier?' Vorsichtig antwortete ich: 'Ich will hier wieder zu Kräften kommen.' 'Gut', erwiderte er, 'wir werden tun, was wir können.' [...] Er kam beinahe jeden Tag zu Besuch und sprach mit mir. Langsam erkannte ich die Methode und ergab mich, öffnete mich seiner Therapie. Die Kräfte kamen langsam wieder. Nach Pfingsten konnte ich nach Basel zurück.
Was nun? Arbeiten? Mein Hausarzt schrieb mich krank, was ich ja immer noch bin. Ich fühlte mich gut, ermüdete aber sehr schnell und musste mich immer wieder hinlegen."
Ernst Ostertag, März 2008 und September 2011
Quellenverweise
- 1
Tages-Anzeiger Magazin, Nr. 33/1985, Seite 28 ff