1985
Leben mit Aids
André Ratti
In seinem Artikel im TAM, Tages-Anzeiger Magazin1 fuhr André Ratti fort und berichtete über sein anderes, neues und knapp befristetes Leben mit Aids, dem tödlichen Virus im Körper:
"Die Homosexuellen Arbeitsgruppen Basel (HABS) kündigten eine Veranstaltung an: Ein Dr. Haeberle aus San Francisco würde über die dort gemachten Erfahrungen mit Aids sprechen. [...] Die Stadt San Francisco hat sich in kurzer Zeit mit ihren Tausenden von Homosexuellen solidarisiert. [...] Safe Sex ist das Schlagwort. Keine Bars und keine Saunas wurden geschlossen, keine neuen Schuldgefühle provoziert.
Wir sind keine Amerikaner. Aber die Hoffnung steckte an. Mir blieb ein Satz hängen: 'Sie müssen alles verhindern, was das Vertrauensverhältnis zwischen den Homosexuellen, den Aids-Kranken und Testpositiven und den Ärzten und Behörden stören könnte. Denn wenn das Vertrauen weg ist auf Seite der Betroffenen, zum Beispiel durch eine dumme bürokratische Registratur, dann [...] geht die Krankheit in den Untergrund. Und dann haben wir das Chaos [...] Eine kurze Vision streift mein Gehirn: die Jagd auf Homosexuelle und Quarantänelager irgendwo in den Alpen oben. Es darf nie soweit kommen! [...]
Handeln! Aber wie? Ich besinne mich auf meine frühere TV-Tätigkeit. Ein Video über Aids. Wer soll das bezahlen? Das Gesundheitsamt in Bern? Ich rufe an. Man verweist mich auf einen neu gegründeten Verein in Zürich, 'Aids-Hilfe Schweiz'. Ich rufe an. Mein Partner am Telefon und ich verstehen uns sofort. Er will, dass ich das Präsidium übernehme, obwohl sie bereits einen gewählten Präsidenten haben. Ich sage ihm: Das ist euer Problem. Ich bin bereit. Ich weiss, was auf mich zukommt: Pressekonferenz, Fernsehen, Radio - und kein Drumherumreden, keine Halbheit. Ich bin Präsident des Vereins [...] und eröffne [...] die Pressekonferenz. [...]
Am nächsten Tag: Die Reaktionen sind positiv. [...] Die Öffentlichkeitsarbeit ist beendet. Wir melden uns wieder, wenn wir etwas vorzuweisen haben. Die Arbeit mit dem Verein läuft an. Wir brauchen Geld - für das Video, für die Selbsthilfegruppen, für Aufklärung und Information.
Keine Schläge ins Wasser. Die Situation ist sehr heikel. Immer wieder der Satz von Dr. Haeberle. Diese Krankheit darf nie in den Untergrund. Mit den Fixern ist sie es bereits. Offenheit und Vertrauen. Und was machen wir mit der grossen Dunkelziffer der Bisexuellen?
Langsam entwickeln wir in Gesprächen und langem Darübernachdenken eine Strategie: Zuerst und vor allem bei den Schwulen selbst und in der Öffentlichkeit eine Klimaverbesserung herbeiführen. [...]
Homosexualität oder die Anlage zur Bisexualität ist angeboren. Geht man davon aus, dass das männliche Prinzip sich in der gesamten Natur immer und in jedem Fall zuerst gegen das viel mächtigere weibliche durchsetzen muss - dann hat es sich in uns Homosexuellen eben nie ganz durchgesetzt. [...]
Das Misstrauen der Öffentlichkeit, besonders der Männer, gegenüber den Homosexuellen ist verständlich: Jeder Mann spürt in sich den Rest des Weiblichen, und dieser muss ihn ja zwangsläufig auch sexuell zu anderen Männern hinführen. Das macht Angst. Ich verstehe diese Angst. Jeder, der sich nicht fortpflanzte, hatte im Grunde hier nichts zu suchen. Homosexualität war nicht nützlich. Wer keine Kinder zeugte, war kein Mann. Das Verdikt ist grauenhaft und unmenschlich - es besteht leider immer noch. Man hat die Homosexuellen immer und überall verfolgt [...]. Gut, wenn wir keine Männer sind und sein dürfen, dann wollen wir eben sein wie die Frauen - und diese fühlen sich mit uns ja solidarisch, denn auch sie werden unterdrückt. [...]
Aids ist eine Krankheit, und sie verhält sich so, wie andere Krankheiten, folgt bestimmten Mechanismen und Gesetzen, die man kennt. Ein Virus ist kein Lebewesen, aber es sucht sich trotzdem das für es günstigste Milieu zur Verbreitung seiner Erbinformationen aus. Viele werden noch erkranken. Auch Nichtschwule. Viele werden sterben. Auch ich. [...]
Wir müssen alle - Nichtschwule und Schwule - endlich wirklich solidarisch werden. Ökologie heisst Solidarität! Aids ist, wie alles andere in dieser Welt, ein Teil dieser Ökologie."
Ernst Ostertag, März 2008 und September 2011
Quellenverweise
- 1
Tages-Anzeiger Magazin, Nr. 33/1985, Seite 28 ff