1985

Vor der Presse: 2. Juli

Coming out

Die Pressemappe der Aids-Hilfe Schweiz (AHS) stellte den Präsidenten mit einem Bild vor, denn er leitete die auf den 2. Juli 1985 anberaumte Pressekonferenz in Bern:

"André Ratti, geb. 1935 in Basel, Buchhändler und Journalist, war in diesen beiden Berufen in der Schweiz und im Ausland tätig. 1972 wurde er Leiter und Präsentator des Magazins 'Menschen Technik Wissenschaft' am Schweizer Fernsehen. Seit 1982 freier Journalist. Präsident der Aids-Hilfe Schweiz seit 30. Juni 1985."

Tags darauf erschien im Blick der gross und fett gedruckte Titel auf der Frontseite

"Bekannter TV-Mann bekennt: 'Ich habe Aids'"

Darunter ein Kommentar von Edgar R. Minder:1

'Ich heisse André Ratti, bin 50-jährig, homosexuell, und ich habe Aids.' Mit diesem Worten eröffnete gestern der ehemalige Chef des Magazins 'Menschen Technik Wissenschaft' von TV DRS in Bern eine Pressekonferenz. Tausende von Zuschauern der 'Tagesschau' verfolgten [...] ergriffen das Interview mit dem Aids-Opfer. Auf die Frage, weshalb er denn jetzt an die Öffentlichkeit gelange, erklärte Ratti klar: 'Was bleibt uns denn anderes übrig, wenn man nur noch zwei bis drei Jahre zu leben hat?' Und so, wie er seinerzeit in seiner wissenschaftlichen Sendung komplizierte Sachverhalte jedermann verständlich machte, sprach er souverän über seine Veranlagung und seine unheilbare Krankheit.

Rattis Appell: 'Wir müssen informieren und uns um Verständnis bemühen.' Ratti, seit 3 Jahren nicht mehr beim Fernsehen tätig, ist Vorsitzender der [...] 'Aids-Hilfe Schweiz', die mit Aufklärung und Beratung die tödliche Seuche eindämmen will."

Derselbe Edgar R. Minder schrieb am nächsten Tag im Blick einleitend zu einem Interview:2

"Nach Aids-Opfer André Rattis erschütterndem Bekenntnis [...] wird der todkranke ehemalige Chef von 'Menschen Technik Wissenschaft' [...] von wildfremden Menschen angerufen, auf der Strasse angesprochen. 'Eine ungeheure Welle von Sympathie hat mich auf mein öffentliches Bekenntnis, homosexuell zu sein und Aids zu haben, überflutet', sagte Ratti gestern zu BLICK, [...] 'Vor allem Frauen reagieren grossartig. Sie sind von einer überwältigenden Offenheit. Von ihnen habe ich in einer Art und Weise Hilfe erfahren, die mich perplex gemacht hat.' [...]"

Mit seinem Bekenntnis gab André Ratti der nicht heilbaren Krankheit, der schleichend herangekommenen und überall lauernden, nicht fassbaren Gefahr schlagartig ein Gesicht: Sein Gesicht. Und das wirkte wie eine Befreiung weit in die Bevölkerung hinaus. Nun konnte man mitfühlen, sich einbringen, die anderen Opfer sich vorstellen. Auch sie hatten jetzt ein Gesicht bekommen.

Rattis Beispiel wirkte in der Schwulenbewegung noch über Jahre weiter: Öffentliches Sichtbarmachen, offenes Bekennen musste nicht zwangsweise zu Ausgrenzung und Verlust (Arbeit, Familie) führen. Es konnte Sympathie, Solidarität, ja sogar Bewunderung auslösen. Mut zur Ehrlichkeit im Privaten - und erst recht im Sexuellen - konnte zum positiven Signal werden und auch bei "den Anderen" Kräfte eigener Befreiung wecken.

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Ernst Ostertag, März 2008 und September 2011

Quellenverweise
1

Blick, 3. Juli 1985

2

Blick, 4. Juli 1985