1985
Selbsthilfe
Der Informationsabend vom 13. Dezember 1984 in einem grossen Hörsaal der Universität Zürich zeigte - für viele erstmals - Gesichter von Aids-Kranken, von schwulen Mitmenschen, Freunden, Bekannten, die todgeweiht waren und dringend Hilfe brauchten, welcher Art auch immer. Hier gab es kein Wegsehen und ruhig Heimwärtsziehen. Hier musste etwas getan werden. Sofort.
Die Homosexuellen Arbeitsgruppen Zürich (HAZ) beriefen noch im Dezember eine Kerngruppensitzung ein.
Dort brach das Dilemma offen aus: Aids wirft uns zurück, Aids behindert den Kampf um Schwulenemanzipation, Aids spaltet unsere Kräfte. Es gab Leute, die Aids als Propagandawerk politischer Schwulenhetze und der Sensationspresse sahen, als erfundenes Mittel zur Ausgrenzung und Unterdrückung.
Andere wollten das jetzt Wichtigste tun, Hilfe leisten. Dies durchaus in der Hoffnung, damit gewisse positive Zeichen in die Öffentlichkeit zu senden. Schwule Selbsthilfe belastete kein staatliches Budget und konnte auch als Beitrag an die nötige Aids-Aufklärung und Prävention gesehen und als Verantwortungsbewusstsein gegenüber der Bevölkerung dargestellt werden.Schwule Organisationen würden Profil gewinnen und nicht mehr im Schatten stehen.
Dieses Dilemma zwischen Emanzipationsstreben und Hilfe/Aufklärung leisten beschäftigte vor allem die politisch und gesellschaftlich auf Veränderungen ausgerichteten Homosexuellen Arbeitsgruppen der einzelnen Städte wie den Dachverband HACH. Es führte bereits 1984, vor allem aber 1985 zu heftigen Diskussionen und ernsthaften Auseinandersetzungen. Ihnen nachzugehen lohnt sich, denn so wird die angespannte und schwierige Lage jener Zeit deutlich. Zugleich zeigt sich, auf welchem Niveau die hohen Anforderungen unter den Bedrohten und Betroffenen analysiert wurden, um sie schliesslich - möglicherweise und bestenfalls - meistern zu könnnen.
Ernst Ostertag, August 2011