1992

Protest

Das Vorgehen von Bundesrat Cotti löste Proteste der organisierten Schwulen aus. Am 11. März 1992 richtete der Dachverband aller Homosexuellen Arbeitsgruppen der Schweiz (HACH) einen Brief an "den Vorsteher des Eidgenössischen Departements des Inneren, Herrn Bundesrat Cotti":

"[...] Die gemeinsame Präventionskampagne der Aids-Hilfe Schweiz und des Bundesamtes für Gesundheitswesen galt bisher als weltweit einmalig und hat in vielen Ländern Nachahmer gefunden. Mit sachlicher Information ist es den beiden Fachstellen gelungen, grosse Bevölkerungskreise von den propagierten Vorsichtsmassnahmen zu überzeugen, was sich - gerade in der homosexuellen Bevölkerungsgruppe - an der rapide schwindenden Zahl von Neuinfektionen zeigt.

Es macht nun den Anschein, dass diese erfolgreiche Aufklärungsarbeit zugunsten einer bestimmte Moralvorstellungen verbreitenden Kampagne aufgegeben wird. Davor möchten wir warnen, denn es wäre verfehlt zu meinen, damit könne man die Verbreitung der Krankheit stoppen. Aufs Spiel setzen würde man vielmehr das Leben unzähliger Menschen und das bestehende Vertrauen grosser Bevölkerungskreise in die heutige Aids-Prävention. Eine wirksame Aufklärungsarbeit muss sich an der realen Lebenssituation der Zielgruppen orientieren und sich ihrer Sprache bedienen, auch wenn dies bei gewissen Bevölkerungskreisen Befremden auslöst.

Der 'Verein für psychologische Menschenkenntnis' (VPM) und die mit ihm verbundene 'AIDS-Aufklärung Schweiz' haben verschiedentlich gezeigt, dass es ihnen nicht um eine wirkliche Aufklärung der Bevölkerung geht. Im Vordergrund steht bei ihnen vielmehr die Durchsetzung bestimmter Moralvorstellungen und damit die Verbreitung weltanschaulicher und politischer Positionen. Im Unterschied zur Aids-Hilfe Schweiz vermögen die beiden Organisationen denn auch keine Betreuungsarbeit an Betroffenen oder andere unspektakuläre Arbeiten nachzuweisen, wie sie zum Alltag einer den Aids-Kranken verpflichteten Organisation gehören.

Wir appellieren an Sie, sehr geehrter Herr Bundesrat, sich dafür einzusetzen, dass in unserem Land auch künftig eine ungeschminkte, die Dinge beim Namen nennende Aufklärungsarbeit möglich ist und fordern Sie in diesem Sinne auf, auf eine Zensurierung der von der Aids-Hilfe Schweiz herausgegebenen Broschüren zu verzichten. [...]"

Gezeichnet war das Schreiben im Namen des Vorstandes der HACH von Lukas Bühlmann und Christoph Wüthrich.

Am 17. November 1992 verschickte Lukas Bühlmann im Auftrag der HACH einen Brief zum Thema "WHO-Bericht zur schweizerischen Aids-Prävention: Pressemitteilung":

"An die Redaktionen
ausgewählter Tageszeitungen,
von Radio und Fernsehen
und die Presseagenturen

Sehr geehrte Damen und Herren

Die Homosexuellen Arbeitsgruppen der Schweiz (HACH) lassen Ihnen folgende Pressemitteilung zukommen:

Aids-Präventionsarbeit der Schweiz nicht makellos

Die HACH teilen die Ansicht, dass die Schweiz weltweit vorbildliche Aids-Präventionsarbeit geleistet hat, stellen jedoch die Frage, ob das auch gegenwärtig noch der Fall ist. Die Tatsache, dass in letzter Zeit schwule Präventionsprojekte vom Bund blockiert worden waren, weist eher in eine andere Richtung.

Die im Oktober erschienene Safer Sex Broschüre für junge Schwule konnte nur dank finanzieller Unterstützung privater Kreise herausgegeben werden, weil das Bundesamt für Gesundheitswesen (BAG) die Arbeiten an der Broschüre immer wieder behinderte.

Aktuellstes Beispiel ist die Präventionsbroschüre für schwule Ledermänner. Diese Broschüre, einstmals vom BAG (Bundesamt für Gesundheitswesen) unterstützt, musste anfangs Jahr auf Geheiss von Bundesrat Cotti vernichtet werden. Dies, obwohl sie international beste Noten erhielt. [...]

Dass ausgerechnet heute, am Tag, wo die WHO (Weltgesundheits-Organisation der UNO) dem BAG gute Noten erteilt, diese ungeliebte Broschüre von privaten Schwulenkreisen neu herausgegeben wird, illustriert deutlich, dass die Schwulen von der Aids-Politik des Bundes mehr und mehr vernachlässigt werden. [...] Die WHO scheint diese unerfreuliche Entwicklung nicht erkannt zu haben.

Für Ihr Interesse danken wir Ihnen bestens."

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Ernst Ostertag, April 2008