1988

Tätigkeits-Bilanz

Juni bis Dezember

Als neuer Geschäftsführer der AHS (Aids-Hilfe Schweiz) verfasste Beat Kraushaar zum Jahresende einen Überblick auf die Zeit seit seinem Amtsantritt im Juni 1988:

"[...] Der Zuwachs der regionalen Aids-Hilfen, die unterdessen auf 19 Vollmitglieder angewachsen sind, ist eine sehr erfreuliche Entwicklung für die gesamtschweizerische Vernetzung. [...]

Die MVV (Mitgliedervertreter-Versammlung) vom 14./15. Oktober 1988 stand ganz im Zeichen von Neuwahlen und der Aufnahme von Neumitgliedern. [...]

Der 1. Dezember, [...] von der WHO (Welt-Gesundheits-Organisation der UNO) als Welt-Aids-Tag erkoren, [...] wurde von der Arbeitsgruppe Erster Dezember hervorragend organisiert. [...] Die Pressekonferenz von Basel [...] war ganz der Einführung des 'Names Project' gewidmet.1 Der erste Schweizer Quilt wurde dabei vorgestellt. [...] Landauf und landab berichteten Medien darüber.

Ebenfalls erwähnen möchte ich das von der AHS neu eingeführte 'Profitreff'. Dabei handelt es sich um ein Weiterbildungsangebot für die Angestellten der regionalen Aids-Hilfen. Die ersten zwei Veranstaltungen zeigten, dass dies einem Bedürfnis entspricht. [...] Auch 1989 sollen sie [...] weitergeführt werden. Ebenfalls voll ausgebucht waren die Workshops [...] in Telefonweiterbildung. [...]

Unerfreuliche Entwicklungen [...]:

  1. Die Nachricht, die Neuenburger Versicherung wolle alle Neueintretenden obligatorisch einem HIV-AK-Test unterziehen, löste unsere Reaktion aus. [...] durch den Druck der AHS wurde diese Verfügung zurückgezogen und vorläufig 'ausgesetzt'.
  2. Kurz darauf verurteilte das Zürcher Obergericht eine HIV-positive Frau wegen ungeschütztem Geschlechtsverkehr zu 60 Tagen unbedingt. [...] Das Urteil ist in unseren Augen fragwürdig und vor allem eine Diskriminierung [...]. Zum ersten Mal in der Geschichte der AHS gingen wir aus Protest auf die Strasse [...] Die Verurteilte erhob Beschwerde vor Kassationsgericht. Mit grösster Wahrscheinlichkeit wird der Fall zur Neubeurteilung an das [...] Obergericht zurückgewiesen. [...]
  3. Der (offizielle) Zürcher Aids-Bericht 1988 - obwohl gute Elemente enthaltend - musste von der AHS wie von den regionalen Aids-Hilfen wegen seines repressiven und diskriminierenden Massnahmenkatalogs verurteilt werden. [...] Wir mussten [...] handeln, obwohl klar war, mit der Forderung 'Einstampfen des Berichts' hart an die Grenzen zu gehen. Aber schliesslich benötigen nicht nur diejenigen Toleranz, welche über alle Machtmittel verfügen, sondern diejenigen, welche ohne Schutz gesellschaftliche Angriffe nicht überstehen (überleben) können. HIV-Positive und Aids-Kranke gehen einen schweren und schlimmen Gang. Sie brauchen nicht unsere Strafe oder unseren Ekel, sondern unsere Begleitung und unsere Liebe.
  4. Das letzte Kapitel hat vor wenigen Tagen die Ärzte-Gesellschaft Bern geschrieben. Ihre Forderungen waren so diffus und provokativ, dass sie wohl die Aufmerksamkeit der Medien erreichten, aber nur in dem Sinne, dass 'der Schuss klar hinten raus ging'.

Alle diese Vorfälle haben unsere Arbeit stark behindert und unnötig viel Zeit und Energie gekostet.

Für die Zukunft hoffen wir, dass die AHS, wie im 'Berner Fall', vor allem mit überzeugenden Argumenten Öffentlichkeitsarbeit leisten kann. Besonders begrüssenswert wäre es, wenn wir gemeinsam und geschlossen eine menschlich vernünftige Aids-Politik betreiben könnten. [...] Notwendig ist eine gesamtgesellschaftliche Unterstützung für die besonders gefährdeten Gruppen, [...]."

Nach oben

Ernst Ostertag, April 2008

Anmerkungen
1

Angehörige und Freunde von Aids-Opfern verfertigten "Quilts" zum Andenken an ihre Verstorbenen. Diese wurden zu Tüchern zusammengenäht. Im Andenken an die Toten legte man sie auf öffentlichem Grund aus und formte so eindrucksvolle Riesenteppiche als Mahnmal an die stets wachsende Zahl von Opfern der Krankheit. Diese Form des Gedenkens entstand in den USA.