1986

Betreuung und Begleitung

Workshop Albis

Im Juni 1986 entstand innerhalb der Zürcher Aids-Hilfe (ZAH) die Arbeitsgruppe "Betreuung und Begleitung" (B&B). Die herrschende Situation mit stets neuen HIV-Positiven, Erkrankten und Sterbenden und den sie betreuenden Freiwilligen, meist Laien, erforderte nicht nur mehr Wissen, sondern auch klare Richtlinien, ein Konzept. Freiwillige wurden über einen zweiseitigen Fragebogen ausgewählt.

An einem gemeinsamen Workshop-Wochenende sollten sie vorbereitet werden, einander kennen lernen und das Konzept erarbeiten. Auf der Einladung hiess es unter anderem:

"Die Helfer und Helferinnen [...] müssen genau wissen, was sie leisten und was sie anbieten können. Auch sollten die Leute, welche sich für diese schwierige Arbeit interessieren, sich relativ gut kennen und untereinander ein 'produktives' Klima schaffen können. Das Grundkonzept sollte deshalb von allen Beteiligten gemeinsam erarbeitet und getragen werden."

Der Workshop fand im Albishaus (Albispass, ZH) am 13./14. September 1986 statt. Für den Samstag standen drei Orientierungen durch Fachkräfte auf dem Programm. Das waren eine Pflegefrau von der medizinischen Poliklinik, Universitätsspital Zürich, ein Arzt aus derselben Klinik und ein Psychiater aus der Klinik Schlössli, Oetwil am See. Ihre Referate, so hiess es auf der Einladung weiter:

"stehen unter dem Titel 'Mögliche Vollbilder und Endstadien von Aids-Kranken', jeweils aus pflegerischer, aus akutmedizinischer und aus psychiatrischer Sicht.

Nachdem die wichtigsten und drängendsten Rückfragen an die Orientierenden beantwortet sind, soll - so unsere Vorstellung - nach einer Pause der zweite Teil des Samstagnachmittags und auch der Abend der gemeinsamen Aufarbeitung des Gehörten reserviert sein."

Der Sonntag war konkreten Fragen und Antworten gewidmet, wie:

  • Erarbeiten eines brauchbaren Konzepts für die Region Zürich
  • Erarbeiten der möglichen Anforderungen an die freiwilligen HelferInnen
  • Austausch der verschiedenen Vorstellungen der Betreuungs- und Begleitungsarbeit

Das Konzept lag in seiner definitiven Form am 17. Januar 1987 vor, verfasst von Aneth Spiess und Stephan Inderbitzin.1

  • Zur Betreuung (Bereich 1) wird u.a. gesagt, dass sie ergänzend zu verstehen sei (nebst Arzt, Spitex etc.) und dass stets zwei (mindestens) Freiwillige einen Kranken betreuen sollen. Die Vorgehensweise ist genau angegeben. Dazu gehört auch, dass jede Betreuerin, jeder Betreuer ein persönliches Tagebuch zu führen habe und dass sie oder er nach Abgabe der Betreuung eine schriftliche Zusammenfassung der Gruppenleitung B&B übergeben müsse.
  • Für die Betreuer (Bereich 2) sind die hohen Anforderungen aufgezeichnet. Zugleich ist die Teilnahme an der Supervision, den Sitzungen der B&B (u.a. Erfahrungsaustausch) und an Weiterbildungskursen obligatorisch. Die Betreuer stehen in vertraglicher Verpflichtung gegenüber der ZAH. Dauer mindestens ein halbes Jahr.
  • Im Bereich 3 sind die Verbindlichkeiten und Aktivitäten der Gruppe "Betreuung & Begleitung" (B&B) umschrieben. Alle Freiwilligen gehören B&B an und sind zugleich Aktivmitglieder der Zürcher Aids-Hilfe (ZAH).

Dieses hier auf eine knappe Form gebrachte Konzept mag auf den ersten Blick etwas hart erscheinen, vor allem was die Verpflichtungen der Betreuer betrifft. Sie waren aber zum Schutz der Freiwilligen formuliert worden und funktionierten auch tatsächlich in diesem Sinn. Ein Hauptmotiv zur zügigen Erarbeitung des Konzepts lag auch in der Tatsache, dass, wie Stephan Inderbitzin in einer Mail vom 29. September 2011 ausführte:

"wir in der ZAH sehr schnell viele Menschen berieten (vor allem Partner von Erkrankten), die von der Betreuung bereits so erschöpft waren, dass sie nach kurzer Zeit selber Hilfe brauchten. Dazu war uns das Buch 'Die hilflosen Helfer - Über die seelische Problematik der helfenden Berufe' von Wolfgang Schmidbauer (Rowohlt, 1977) eine grosse Unterstützung."

In der Folge ist das Vorbild B&B samt seinem Konzept von den meisten lokalen und kantonalen Aids-Hilfe-Organisationen des Landes übernommen worden. Denn damit erhielten diese Gruppierungen, wonach sie gesucht hatten: Strukturen für ihre Aufgaben dort, wo es nicht (nur) um Prävention ging, sondern um dringend nötige Einsätze der unmittelbaren, praktischen Hilfe.

Nun wurden die Aids-Hilfe-Gruppierungen als wichtige Kräfte im gesamten Kampf gegen Aids wahrgenommen, auch in der Öffentlichkeit.

Das war ein bedeutender Faktor in der Auseinandersetzung mit der Aids-Hilfe Schweiz (AHS), als diese 1987 mit einer Kampagane startete, die Sprüche wie "Stop Aids, bliib treu" verwendete und damit in überwunden geglaubte Bahnen der Moral und des erhobenen Zeigefingers zurückfiel.

Bereits Erkrankte wurden so wieder stigmatisiert. Dagegen setzten sich die lokalen Aids-Hilfen und viele Einzelne zur Wehr, denn ihre Erfahrungen an der Basis lehrten sie eine ganz andere Wirklichkeit.

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Ernst Ostertag, September 2011

Quellenverweise
1

Alle Quellen zu diesem Unterkapitel befinden sich in Privatbesitz von Stephan Inderbitzin