Newsletter 52

April 2014

Diese Ausgabe enthält folgendes Thema: 

  • Kolumne: Zum deutschen §175

      

Zum deutschen §175

eos. Der letzte Newsletter berichtete vom grossen Erfolg des Films DER KREIS in Berlin. Der Publikumspreis dort lässt auf einen bemerkenswerten Grad von Akzeptanz in der ehemaligen Reichshauptstadt Hitlers schliessen. Das Königreich Preussen hob 1794 die Todesstrafe für "Sodomie" auf und ersetzte sie durch Gefängnis, geregelt mit dem §175. Das war fortschrittlich im Sinne der Aufklärung, wie sie Friedrich der Grosse (1712-1786) in seinem Staat eingeführt hatte. (In England gab es noch 1861 eine - letzte - Hinrichtung wegen "Sodomy".) Wir wollen uns mit der Geschichte des §175 den Hintergrund ansehen, vor dem sich die Akzeptanz einer Mehrzahl der Deutschen von heute abhebt.

Der §175 sollte abartiges Verhalten ("Unzucht") nicht nur bestrafen, sondern vor jeder Nachahmung abschrecken. Das Mittel war Gefängnis mit Verlust von Existenz und Ehre statt Verbrennen, Hängen, Ersäufen. In der Neigung zum gleichen Geschlecht Liebe erkennen, das war (noch) unvorstellbar.

Erst 1969 wurde dieses Gesetz entschärft und 1994 gänzlich aufgehoben, 200 Jahre nach seiner Einführung. Seit nun zwanzig Jahren leben deutsche Schwule ohne den berüchtigten §175. Allerdings begannen sie mit politischen Vorstössen für Änderungen zu kämpfen, kaum hatten sich erste Gruppierungen zusammengefunden. Das war in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts.

Doch der Kampf blieb bis Ende 1932 erfolglos. Dann betrat Hitler die Bühne. Er und seine Schergen erstickten 1935 jede homosexuelle Regung mit den "Nürnberger Gesetzen". Damit erklärten sie alle Falsch-Rassigen (Juden, Sinti und Roma) und Entarteten (Schwule) zu "Schädlingen am gesunden deutschen Volkskörper", die es auszumerzen galt. Man konnte sie nun jederzeit denunzieren, verfolgen, in Straflager einweisen und "liquidieren".

Nach dem Nazi-Terror (1945) behielt die Bundesrepublik (Westdeutschland) ab 1949 den von Hitler verschärften §175 weiterhin als gültiges Gesetz, begründet nicht mehr mit Entartung, wohl aber mit "Sittenwidrigkeit" und Missachtung der "allgemein gültigen Grundwerte". Die Politiker holten sich dazu die Zustimmung der leitenden Gremien beider "wichtigsten Konfessionen", der evangelischen wie der katholischen. Das war 1957, nachdem zwei Schwule wegen Verstoss gegen das Grundgesetz geklagt hatten, wonach niemand wegen der Rasse noch des Geschlechts diskriminiert werden dürfe.

Erst 24 Jahre nach Untergang der Nazi-Barbarei hob die Bundesrepublik die Verschärfung von 1935 auf und setzte homosexuelle Akte unter Erwachsenen frei (1969 mit Schutzalter 21). Die DDR (Ostdeutschland) hatte die Verschärfung bereits 1950 zurückgenommen und 1968 die Freigabe mit Schutzalter 18 beschlossen. Per 1. Juli 1989 fiel der §175 in der DDR gänzlich weg; Schutzverordnungen fanden sich jetzt im Jugendstrafrecht.

Die unterschiedliche Gesetzgebung führte nach dem Fall der Berliner Mauer und mit dem innerdeutschen Einigungsvertrag zwischen BRD und DDR vom Oktober 1990 während mehr als zwei Jahren zur abstrusen Lage von zweierlei Recht in derselben Stadt Berlin: Im Westen galt der §175, im Osten gab es nichts dergleichen. Man kann schwerlich ein besseres Beispiel für den Widersinn der Bestrafung dessen finden, was Liebe ist unter gleichgeschlechtlich veranlagten Menschen.

Mehr dazu unter Der §175 im deutschen Recht

Beim Kampf gegen den diskriminierenden Paragrafen spielte eine Gruppe von Freunden in Reutlingen bei Stuttgart eine wichtige Rolle: Deutschland: die runde

In den vielen Jahren der Verfolgung von "175ern", wie sie seinerzeit hiessen, publizierte der KREIS erschütternde Briefe von Opfern und wurde so zum Sprachrohr für jene, die sich nicht öffentlich äussern oder gar beschweren konnten. Auch half er über Mittelsmänner solchen, die fliehen mussten. Einige Zeugnisse sind hier zu finden: Deutschland: §175-Flucht