Newsletter 65

Mai 2015

Diese Ausgabe enthält folgende Themen: 

  • Kolumne: Victory-Day!
  • Eine Neuerscheinung: Frauen über siebzig erzählen
  • Bericht von der Vereinsversammlung

   

Victory-Day! Das Kriegsende aus der Sicht eines Schülers

eos. Glockengeläute von allen Kirchtürmen des ganzen Landes. Menschen treten hinaus ins Licht des sonnigen Tages. Sie füllen Strassen und Plätze. Sie stehen da und lauschen. Viele Hand in Hand, und einige beginnen sich zu umarmen, Unbekannte. Andere, immer mehr, tun es auch. Wir Schüler schauen zu. Etwas Scheues ist da. Auch etwas Schönes. Wir werden es nie vergessen.

Das war der 8. Mai 1945. Waffenstillstand in Europa. Die Mächte des Grauens, der Angst und der Bedrohung waren gebändigt, verschwunden. Es ist vorbei! Langsam nahm die Gewissheit Platz. In den Herzen, im Sinn. Für immer vorbei!

Ich erinnere mich so, als wäre es gestern gewesen. Nach einem letzten finsteren Winter mit Krieg an allen Fronten, mitten in Europa, da zerbröckelte im anbrechenden Frühling die Macht des Hasses und Vernichtens.

Zwar hörte ich auf dem Schulweg das Brummen angeschossener Flieger und sah die schweren amerikanischen Maschinen tief am Himmel mit nur noch zwei oder gar nur einem funktionierenden Propeller. In Schräglage steuerten sie über den Zürichberg Richtung Dübendorf, viermotorige "Fliegende Festungen". Voll Hoffnung schaute ich ihnen nach. Mögen sie doch rechtzeitig landen, dort, in Sicherheit. Gelegentlich gab es einen dumpfen Knall. Dann stieg Rauch auf vom Berg oder hinter ihm. Fallschirme. Gut, einige der Mannschaft retteten sich - oder wenigstens einer.

In meiner Geheimschachtel sammelte ich abgeworfene Alu-Streifen. Einmal kam ein Flugblatt dazu, verschmutzt, halb zerrissen, in deutscher Sprache: "Der Krieg ist verloren, gebt auf, Widerstand sinnlos." Das waren Dinge aus dem Jahr zuvor und noch früher, als sie nachts hoch über uns hinwegflogen, stundenlang, aus Italien nordwärts, dann weit nach Mitternacht in umgekehrter Richtung, zurück auf ihre Basen. Das Aluminium auf den etwa 30 Zentimeter langen Streifen solle Radar-Stationen der Abwehr stören, las ich in der Zeitung.

Nun hatten die Schätze in meiner Schachtel ihre Bedeutung verloren. Zeichen des Widerstandes waren sie, Beweise für den Weg Richtung Untergang der dämonischen Macht, fassbare kleine Hoffnungen. Das war nun Geschichte. Vergangenheit. Irgendwann habe ich alles entsorgt. Lange nach dem unsagbar hellen, schönen Tag der Befreiung, Victory-Day.

Zu diesem Tag mehr unter Victory-Day, 8. Mai 1945

  

Eine Neuerscheinung: Frauen über siebzig erzählen

eos. Die Historikerin und freie Journalistin Corinne Rufli hat ihre Lizentiatsarbeit am Historischen Seminar der Universität Zürich jetzt zu einem Buch ausgeweitet. Elf Frauen über siebzig schauen auf ihr Leben zurück. Die Vernissage fand am 31. März 2015 in der Kanzlei-Turnhalle statt, am Ort, wo es 30 Jahre lang die Frauen-Disco Tanzleia gab.

Die Halle war berstend voll, 60 Frauen warteten noch draussen. Ich habe nie zuvor so viele Lesben gesehen, von ganz jungen bis zu solchen meines Jahrgangs. Corinne Rufli hatte Röbi Rapp und mich eingeladen, damit wir etwas zur Lesbengeschichte sagen. Beim Sprechen wurde uns klar, welche Bedeutung dieser Anlass hat. Erstmals treten Frauenliebende in die Öffentlichkeit mit ihrer ganz persönlichen Geschichte. Damit wird eine neue Seite unserer schweizerischen Sozialgeschichte aufgeschlagen. Es ist ein Startschuss, unüberhörbar. Nun soll und muss es weiter gehen. Es gibt ja auch jüngere Frauen, die wohl weniger verborgen gelebt haben, die vielleicht in den Befreiungsbewegungen nach 1970 mitmachten, von denen aber bis heute kaum jemand wirklich weiss, wie sie ihre Zeit gelebt, gestaltet, erlitten haben. Auf dieses Buch müssen andere folgen, muss einmal die detaillierte Darstellung lesbischer Geschichte erarbeitet werden. Mit allen ihren Protagonistinnen, in bunter Breite und Fülle.

Aus dem Klappentext:

"Erstmals blicken in diesem Band elf Frauen über siebzig auf ihr Leben zurück. Sie erzählen, wie sie ihre Beziehungen in der bürgerlichen Enge der Schweiz gestalteten, wie sie einen Mann heirateten oder sich in eine Frau verliebten und wie sie heute leben. Ihre Geschichten sind voller Lebenslust - berührend und bislang unerhört. Sie zeigen aber auch Ausgrenzungen von Frauen, die sich nicht dem Ideal der Hausfrau und Mutter unterwerfen wollten, und dokumentieren die Vielfalt eines Frauenlebens jenseits von Kategorien."

Corinne Rufli: Seit dieser Nacht war ich wie verzaubert. Frauenliebende Frauen über siebzig erzählen. Verlag Hier und Jetzt, Baden 2015

  

Vereinsversammlung: Ein frischer Wind für Verein und Website

jb. Der Verein schwulengeschichte.ch hat einen neuen Präsidenten. Die Vereinsversammlung vom 28. April 2015 wählte zwei neue Vorstandsmitglieder: Christian D. Grichting und Lars Baumgartner. Weiter im Vorstand verbleiben Walter Gerig (Kassier), Stephan B. Jaray (Webworker) und Josef Burri (Redaktor Website). Die Vereinsversammlung wählte Christian D. Grichting zu ihrem neuen Präsidenten, der auch das Ressort Fundraising übernehmen wird. Der Jurist Lars Baumgartner wird sich mit Rechtsfragen und der Integration des Bereichs Social Media beschäftigen. Mit diesen Wahlen ist es gelungen, den Vorstand zu verjüngen und zu verstärken, um die weltweit einzigartige Website über die Geschichte der Schwulen in der Schweiz lebendig und aktuell zu halten. Christian D. Grichting tritt als Präsident die Nachfolge von Marcel Tappeiner an, der im Januar 2015 sein Amt niederlegte.

Der Verein bereitet für das Jahr 2015 eine visuelle und technische Auffrischung der Website vor: Ein neues Logo soll den nationalen und internationalen Charakter der Website unterstreichen. Das Erscheinungsbild soll dem Zeitgeschmack und den neuen Nutzergewohnheiten der mobilen Kommunikation angepasst werden. Ausserdem ist ein technisches Update des zugrunde liegenden Content Management Systems erforderlich, um die Stabilität und Funktionsfähigkeit der Website auch in Zukunft zu gewährleisten. Der Aufwand für dieses Refresh-Projekt von rund 56'000 Schweizer Franken übersteigt die finanziellen Möglichkeiten des Vereins. Deshalb erstellte eine Arbeitsgruppe unter der Federführung von Mark Frederick Chapman ein Fundraising-Dossier, das an der Vereinsversammlung vorgestellt wurde. Die Sponsoren-Suche beginnt in den nächsten Wochen. Falls die Finanzierung bis Oktober 2015 gesichert ist, soll das Projekt bis im Sommer 2016 umgesetzt werden.