Victory-Day: 8. Mai 1945
Ernst Ostertag erinnert sich an die Kapitulation Nazi-Deutschlands und das Ende des Kriegsgeschehens in Europa. Nun war Friede:
"Ich war 15 Jahre alt. An diesem 8. Mai wurde mir etwas ganz Neues bewusst. Langsam lösten sich Gefühle der Angst, das Gefühl eines steten Ungewiss-Seins, einer Schwere aus Trauer und Hilflosigkeit. All das fiel von mir ab wie riesige Gesteinsbrocken, die fort und weiter rollten und schliesslich hinter einem fernen Horizont verschwanden. Nun wurde mir klar, wie stark diese Gefühle den ganzen Alltag erfüllt und bestimmt hatten, seit meinen frühesten Erinnerungen. Immer waren sie da, wie ein lahmes Bein oder eine schwere Krücke. - Staunend sah ich in den sonnigen Frühling. Wie hell, wie licht und leicht doch alles war. Richtig Frühling! Langsam wuchs ein neues, ein unendliches Gefühl von Freiheit, von gefallenen Grenzen."
Neben ein bewegendes französisches Gedicht setzte Karl Meier / Rolf seine Gedanken und Gefühle zur Stunde, "Friede auf dem alten Kontinent"1:
"Victory Day...
Die Sonne flammt noch ein letztes Mal über die Dächer der Stadt. [...] Menschenwogen fluten durch die Strassen [...] alle im gleichen Gefühl der Erlösung von einem unsäglichen Druck. Ist es Wirklichkeit? [...] Alle wollen es heute glauben. Dass die Dämonen des Abgrunds für immer entschwunden sind!
Glücklich die Knaben, die singend [...] mit dem Tuch unserer Fahne kleine Opfer der Menschenliebe forttragen dürfen. Mag das Grauen der letzten Jahre, das euer junges Hirn noch nicht ganz zu fassen vermag, euer Leben nie so überschatten, dass ihr den Glauben an den Menschen verliert. -
Jetzt beginnen die Glocken im ganzen Land von allen Türmen zu klingen und wir wollen danken und dürfen danken. Aber [...] sie können nicht jene Schreie ganz übertönen, die umsonst nach einem Menschen gerufen haben [...] und sie bauen auch die steinernen Träume von Jahrtausenden nicht wieder auf [...] und sind auch Grabesklänge für Unwiederbringliches. Man spricht bereits von vierzig Millionen Toten, von vierzig Millionen! Das Denken kann nicht erfassen, welche Summe menschlichen Geistes, künstlerischer Sehnsucht und beglückenden Menschendaseins ausgelöscht wurde. Und nur die quälende Gewissheit, dass der Ungeist nur so gebändigt werden konnte, macht uns vom Würgen im Halse frei. -
Die Sterne sind gekommen [...]. Ewiges glänzt [...] über allem irdischen Tun und die letzte Antwort auf die letzten Fragen bekommen wir nie. [...]
Jünglinge tanzen auf den Strassen [...] und ihre Augen leuchten. Wandert nicht der alte, junge Gott mit ihnen, Eros, der vielgeschmähte? [...] Geböte er ihnen doch, [...] sich zu umarmen, [...] als nur ein einziges Mal die Waffe zu erheben gegen den Andern, der auch atmet und liebt. [...] Ihr Lachen und Singen hallt in meine Klause herauf und entlässt mich mit einer zagen Hoffnung in den Schlaf."
Ernst Ostertag, November 2004
Quellenverweise
- 1
Der Kreis, Nr. 5/1945, Seite 6