Newsletter 67

Juli 2015

Diese Ausgabe enthält folgendes Thema: 

  • Kolumne: Die folgenreichen Worte André Rattis

  

Die folgenreichen Worte André Rattis vom 2. Juli 1985

"Ich heisse André Ratti. Ich bin schwul und habe Aids." (AHS-Pressekonferenz 02.07.1985)

eos. Diese Worte wirkten für uns wie die legendäre Tat des Arnold Winkelried. Sie öffneten eine Gasse. Mann konnte hindurchgehen in die Freiheit des Coming Out. Und in den Aufbau des Kampfes gegen die Krankheit. Das hiess klares Wissen und offenes Sprechen.

Im Frühling 1981 hörte ich zum ersten Mal von einer tödlichen Schwulenseuche an der US-Westküste, damals Traumdestination für freien Sex in allen möglichen Formen. Es war in einer Londoner Schwulenbar. Wir diskutierten und waren uns rasch klar: Das kann nur eines jener Gerüchte sein, die von Schwulenhassern ausgestreut werden, wohl von so typisch amerikanischen Fundi-Christen.

Leider war unsere Annahme nur zur Hälfte richtig. Bereits ein gutes Jahr später gab es in der Schweiz die ersten Opfer, und man wusste, es war ein entsetzliches Sterben. Hiesige Fundis nannten es "die Strafe Gottes für ihr sündiges Tun". Bei Bekannten von uns (Röbi Rapp und Ernst Ostertag) brach die Krankheit aus. Inzwischen hatte sie einen Namen: Aids. Und wir erlebten die Isolierung, die Ängste, den Zerfall, das Ende. Was uns am meisten bedrückte, war die Isolierung als eine neue Art von Ächtung, erzeugt aus Angst und Unsicherheit. Auch wir konnten ja nur hilflos zusehen und ein bisschen dabeistehen.

Im selben Jahr, 1982, wurde die Schweizerische Sterbehilfe-Organisation EXIT gegründet, heute Vereinigung für humanes Sterben. Wir orientierten uns und wussten, sollte es uns treffen mit der tödlichen Diagnose, dann wählen wir den Freitod. Wir wurden Mitglieder und sind es noch heute. Das gab uns etwas Sicherheit, wir fühlten uns nicht mehr ganz hilflos. Wir lebten unsere Liebe damals noch im Verborgenen und wohnten auch nicht zusammen. Die Sterbehilfe nahm die Angst vor der Ächtung, vor dem plötzlichen Verlust der Stellung im beruflichen Umfeld, des Ansehens ganz allgemein in der Gesellschaft. Denn der via EXIT vorweggenommene Tod verschwieg die Aids-Diagnose. Und das schien uns wichtiger noch als ein Umgehen des entmenschlichenden Siechtums.

Mit unserem Entscheid waren wir nicht allein. Etliche wählten dieselbe Strategie. Die Zukunft wurde planbar. Ein Bekannter, von Beruf Arzt, erschoss sich, als er Gewissheit über seinen Zustand erlangt hatte. Das wäre uns nicht möglich gewesen. Aber man diskutierte offen über andere Methoden, etwa den ultimativen Nachtspaziergang im Bergwinter. Gespräche dieser Art halfen zu einer gewissen Gelassenheit. Und Gelassenheit war dringend nötig, als Boulevard-Zeitungen voyeuristische Bilder von Entstellten publizierten, betitelt "von Aids gezeichnet", als Politiker in einem Nachbarland forderten, man müsse alle Schwulen wie Kälber mit einem Brandmal kenntlich machen und sie zum Schutz der Normalbevölkerung in Lager stecken. Das waren Exzesse, aber in der Zeit jener Jahre Wirklichkeit in vielen Köpfen. Es baute sich Bedrohung auf. Hinzu kam noch die Angst bei jedem Husten, jedem Schnupfen, bei jeder Grippe und vor jedem Arztbesuch. Christliche Schwule litten zunehmend unter den grossen Auftritten des neuen Papstes Johannes Paul II. aus Polen, der seinen erstmals am 5. Oktober 1979 in Chicago formulierten schroffen "Standpunkt der Kirche" stets neu und medienwirksam in Szene setzte, homosexuelle Handlungen seien nach wie vor sündhaft und verboten. Damals war die Kirche noch eine angesehene moralische Macht.

Völlig unaufgeklärt waren wir nicht. Nebst vielen Ängsten sogar beim Küssen wusste man sehr bald, dass Sperma virenverseucht und daher oraler wie analer Sex lebensgefährlich sein kann. Besser ganz meiden und nicht mehr tun, was in den letzten zehn bis zwanzig Jahren ganz natürlich dazu gehörte. Kondome schützten unsicher. Also galt es, andere Arten von Sex und Petting auszuüben, auszuprobieren. Fantasie hiess die neue Direktive. Niemand wusste, ob er schon Viren im Körper hatte; man wollte sie wenigstens nicht vermehren. Die Situation im privaten, persönlichen Bereich war 1983 einigermassen lenkbar, man hatte sie mehr oder weniger im Griff.

Was aber geschah draussen in der Gesellschaft, im familiären und beruflichen Umfeld, in der breiten Öffentlichkeit? Es schien sich eine Welle neuer Repression anzubahnen. Sollte alles, was in den letzten fünfzehn Jahren seit 1968 errungen und erreicht wurde, wieder verloren gehen? Wir hatten es erlebt, wie rasch unsere Minderheit als "Gefahr für den gesunden Volkskörper" erklärt und total ausgegrenzt werden konnte. Diese Gefahr bestand jetzt wieder sehr konkret mitten unter uns. Zum Glück gab es im Unterschied zu damals Menschen, die bereit waren, sich zu outen und so den Weg der Zusammenarbeit mit zuständigen Behörden zu suchen. Schwule Ärzte knüpften als erste die Verbindung mit einem sich offen zeigenden Bundesamt für Gesundheit und nannten ihre Gruppe Schwule Medizinmänner. In den kantonalen Homosexuellen Arbeitsgruppen und der Schweizerischen Organisation der Homophilen trafen sich Mitglieder zur Gründung einer gemeinsam getragenen neuen Vereinigung, die sie Aids-Hilfe Schweiz (AHS) nannten.

Und sie fanden in der Person von André Ratti den idealen Präsidenten der AHS. Ratti war einem breiten Publikum bestens bekannt als Moderator der beliebten Fernsehsendung "Menschen, Technik, Wissenschaft". Seine erste bedeutende Handlung war die Pressekonferenz vom 2. Juli 1985 in Bern, an der er die AHS vorstellte mit dem Eröffnungssatz und mutigen Outing seiner Person als schwuler Mann, der Aids habe. Damit brach er den Bann dieser mysteriösen, tödlichen Seuche, gab ihr ein Gesicht und wies auf Wege der konkreten Bekämpfung hin. Das sei nun gemeinsame Aufgabe der Gesundheitsbehörden zusammen mit der von Schwulen getragenen Aids-Hilfe Schweiz und jeder einzelnen Bürgerin, jedem einzelnen Bürger des Landes.

Das geschah vor 30 Jahren. Mehr zu diesem Ereignis unter Aids und seine Folgen und André Ratti