Newsletter 82
November 2016
Dieser Newsletter enthält folgende Themen:
- Heinrich Federer
- LGBTQ-Geschichte der USA im Internet
Heinrich Federer (1866-1928): Vergessener Bestseller-Autor
eos. Im eben vergangenen Oktober 2016 jährte sich Heinrich Federers Geburt zum 150. Mal. Er war einer der beliebtesten Dichter und Schriftsteller der Schweiz. Seine Geschichten wurden Bestseller und blieben bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts in allen Volksschichten präsent: "Lachweiler Geschichten" (1911), "Pilatus" (1912), "Sisto e Sesto" (1913), "Jungfer Therese" (1913), "Das Mätteliseppi" (1916), "Papst und Kaiser im Dorf" (1924), "Von Heiligen, Räubern und von der Gerechtigkeit" (1929) und andere. Sie handeln von eigenwilligen Menschen und Schicksalen, von gefährlicher Gerechtigkeit und von Herzen auf dem rechten Fleck, ähnlich wie bei Gottfried Keller. Aber es gehören auch Bruder Klaus vom Flüeli-Ranft und vor allem der Poverello von Assisi zum Geist und Wesen dieses Dichters und damit eine von umfassender Liebe getragene Menschlichkeit. Heute sind seine Erzählungen, Romane und Gedichte leider fast vergessen. Federer war schwul, ohne seine Empfindungen wirklich auszuleben. Auf tragische Weise wurde die 1902 gemeinsam verbrachte Nacht mit einem 12-jährigen zum Skandal. Das kostete ihn Ansehen und Existenz. Doch nach sieben schwierigen Jahren setzte sich sein Talent durch.
Auf dem Lesetisch meiner Mutter fand ich (Ernst Ostertag) einige der hübsch gebundenen Bändchen Heinrich Federers. Ich war etwa zwölf, und die Titel "Eine Nacht in den Abruzzen", "Unter südlichen Sonnen und Menschen", "Das letzte Stündlein des Papstes", "Gebt mir meine Wildnis wieder" faszinierten mich. Mutter hatte mir viel von Italien erzählt, nachdem sie zusammen mit Vater 1936 und 1937 Florenz und Rom samt Umgebung besucht hatte. Schon damals las sie mir aus der einen und anderen von Federers Geschichten vor. Doch jetzt, fünf oder sechs Jahre später, wurden sie meine Lieblingslektüre. Ob die gelegentlich durchschimmernde Affinität zu jungen Burschen dazu beitrug, kann ich nicht sicher sagen, aber vieles fand ich knisternd. Noch heute nehme ich gerne eines seiner Bücher oder Büchlein zur Bettlektüre. Immer noch sind sie lebendig, sprachlich schön und voller Spannung.
Heinrich war das einzige Kind des katholischen Künstler-Vaters und einer protestantischen Wittfrau mit sechs Kindern, die wegen dieser Heirat zum Katholizismus konvertierte. Die Ehe war nicht glücklich. Der Vater ein Trinker und zeitweiliger Landstreicher, der seine Stelle als Zeichnungslehrer an der Schnitzerschule in Brienz, wo Heinrich geboren wurde, verlor, dann, am Gymnasium Sarnen von den Benediktinern wiederum als Zeichnungslehrer eingestellt, mit der Familie und dem dreijährigen Heinrich dorthin zog, aber bald wieder herumvagabundierte, so dass die Mutter alleine durchkommen musste, was ohne Almosen barmherziger Leute nicht zu schaffen war. Dennoch, dieser fantasiebegabte Vater stand dem Wesen des Söhnleins näher als die herbe, gestresste Mutter, obwohl es ihre Aufopferung nie verkannte und sie immer in Ehren hielt. Im Roman "Das Mätteliseppi" widmete Federer seinen Eltern ein paar Sätze: "O, dieser Mund! Der mütterliche war so dünn und streng und wortarm. Aber dieser volle rote Mund, wie hatte er aus dem dunklen Bart geglüht, wenn Vater beim Dämmerlicht des Abends ihm, dem wonneschauernden Büblein, Märchen und Sagen erzählte, von grossen Spektakeln der Geschichte berichtete oder ein wunderreiches Theater schilderte aus der Zeit seiner Münchner Jahre. (…) Gegen Mutter gab es kein Widerwort. Die hatte immer recht." Und er stand dazwischen, besonders schmerzhaft, wenn der Vater lange weg war und niemand etwas von ihm wusste.
Beim Umzug von Brienz nach Sachseln im Kanton Obwalden erkältete sich der dreijährige Heinrich oben auf dem Brünig-Pass. Die Folge war ein Asthma, das ihn zeitlebens nie mehr verliess.
Er war blitzgescheit, was die Patres rasch merkten und weshalb sie ihn förderten. Er besuchte das Kollegium in Sarnen, später das Lyceum in Schwyz.1886 starb der Vater und im selben Jahr auch die Mutter. Er war zwanzig. Da blieben nur das Theologiestudium und die Ausbildung zum Priester. Für diese Laufbahn flossen Stipendien. 1893 wurde er im Seminar St.Gallen zum Priester geweiht, und unmittelbar danach bezog er eine Stelle als Kaplan in Jonschwil (Toggenburg). Dort aber war er einsam. Geistiger Austausch fehlte. Das Asthma wurde chronisch. Nach sechs eher trüben Jahren erreichte ihn 1899 eine befreiende Nachricht: Er wurde zum Redaktor der katholischen "Neuen Zürcher Nachrichten" berufen.
In rascher Folge veröffentlichte er nun zahllose Artikel zu kulturellen und politischen Fragen und Angelegenheiten und trat in regen Austausch mit dem reformierten Pfarrer Hermann Kutter an der Neumünsterkirche. Damit wurde Federer zum führenden Geist der katholischen Sozialbewegung, die der von Kutter entwickelten religiös-sozialen Bewegung der Schweiz nahestand - und, so könnte man es heute sagen, er wurde einer der ersten Theologen, die Ökumene lebten. Zugleich amtete er als Hauskaplan im Elisabethen-Heim, was ihm freie Unterkunft bescherte. Nun reiste er in die Heimat seines geliebten heiligen Franziskus, Umbrien, und auch südlich davon in die wilden Abruzzen, so oft er konnte. Das Asthma war fast gänzlich verschwunden.
Doch diese glückliche, erfüllte Zeit währte nur drei Jahre lang. 1902 geschah das Drama mit dem 12-jährigen Buben und der gemeinsam verbrachten Nacht oben auf dem Stanserhorn. Federer war Priester und nahm, obwohl er sich nicht wirklich berufen fühlte, sein Priestertum ernst, auch das Zölibat. Er konnte es gut mit jungen Burschen, und sie hingen an ihm, ähnlich, wie es dieser frühreife Knabe Emil tat, dessen Charme den Redaktor dazu brachte, ihn, durchaus unter Einwilligung der Eltern, gelegentlich auf Reisen mitzunehmen. So auch aufs Stanserhorn, wo sie das Zimmer teilten. Das fiel besonders auf, weil sie nicht ruhig schliefen, sondern mitten in der Nacht übermütig, laut und lang das taten, was wir eine "Kissenschlacht" nennen. Ein Zimmernachbar konnte deswegen nicht schlafen und spähte durch einen Türspalt und das Schlüsselloch, um zu sehen, was da los war. Das Gerammel deutete er entsetzt als Liebesspiel, was er sofort dem Wirt meldete. Dieser wiederum orientierte die Polizei. So kam es, dass Federer nach der Talfahrt am nächsten Morgen an der Bahnstation unten verhaftet, von zwei Polizisten durch Stans geführt und im Rathaus in Untersuchungshaft genommen wurde. Diese dauerte etwas mehr als drei Wochen, und das Verfahren endete schliesslich nicht mit einer Verurteilung wegen Päderastie, aber in einem Schuldspruch wegen "unanständigen, ärgerniserregenden Vergehens" und Busse von 300 Franken samt Übernahme der Gerichts- und Untersuchungskosten. In der Haft schrieb Federer mehrmals Bitten um seine Entlassung, da er unschuldig sei, und dann gegen Ende eine ausführliche Schilderung und Stellungnahme, die er als Brief an den Regierungsrat von Nidwalden adressierte. Der Schuldspruch blieb trotzdem an ihm hängen, und darin - wie auch in der übermässig langen U-Haft - sah er zeitlebens eine unverdiente Schmach.
Die Redaktor-Stelle kündigte er selbst, das Domizil im Elisabethen-Heim wurde aufgehoben. Federer stand mittellos auf der Strasse und fand schliesslich Unterschlupf bei einer wohltätigen Frau in Luzern. Aus Not begann er zu schreiben, Buchrezensionen und eigene Geschichten, die er pseudonym an Zeitschriften in Deutschland und Österreich verkaufte. Darin fand er Trost, etwas Auskommen und bald auch wieder Anerkennung. Er liess die Decknamen fallen. Doch in der Schweiz begann man ihn erst wieder zu akzeptieren, als die Erzählung "Vater und Sohn im Examen" 1908 in Berlin ein renommiertes Preisausschreiben für die beste deutsche Novelle gewann. In der Jury sass auch Hermann Hesse. Das liess aufhorchen. Von da an ging es aufwärts. Seine Werke erzielten Auflagen bis zu 100'000 Stück. Er verdiente weit mehr als er brauchte, wohnte wieder in Zürich, erhielt viele Preise und Ehrungen. Sogar Sachseln im Kanton Obwalden verlieh ihm 1926 das Ehrenbürgerrecht. Aber er ging nicht selber hin, um die Urkunde abzuholen. Konsequent mied er die beiden Halbkantone Ob- und Nidwalden, wo er geschmäht, als Verbrecher behandelt und nicht einmal angehört worden war. Begraben wurde er 1928 in Zürich, und dieser Stadt vermachte er auch sein ganzes recht grosses Vermögen. Sie dankte es ihm mit einer Heinrich-Federer-Strasse und einem sehr schönen Grabmal auf dem Friedhof Rehalp.
Ich möchte hier eine nicht unwesentliche Episode anfügen, weil Ähnliches immer wieder vorgekommen ist mit homosexuell fühlenden Menschen, die in einer Diktatur oder Organisation mit strikten ideologischen und/oder moralischen Grundsätzen lebten: Sie wurden erpresst und zu Handlungen gezwungen, die sie als freie Menschen nie getan hätten. Als der Priester Heinrich Federer geächtet und mittellos sozusagen auf der Strasse stand und nur noch Geschichten schreiben und unter fremden Namen veröffentlichen konnte, wandte sich der Bischof von Chur an ihn mit dem Auftrag, eine Serie von erzkonservativen Artikeln zu schreiben, die mit den von Federer selbst und anderen publizierten modernistischen Ansichten abrechneten und sie entkräften sollten. Um möglichen Massnahmen gegen ihn zu entgehen, konnte er nicht anders, als dem Bischof zu gehorchen, der ihm zudem Inhalt und Schreibweise dieser Artikel vorgab. Federer veröffentlichte sie unter dem lateinischen Begriff Senex, was alter Mann oder Greis bedeutet. Später, als er erfolgreich und berühmt war, gebrauchten dezidiert Konservative Zitate von "Senex", um moralisch Fragwürdiges in Federers Werken anzuprangern. Dieses Pseudonym blieb darum sein bestgehütetes Geheimnis. Erst nach seinem Tod wurden die Zusammenhänge bekannt. Er starb früh, mit nur 62 Jahren; ein Greis ist er nie geworden.
Die schweizerische Schwulen-Zeitschrift Kontiki brachte in ihren Ausgaben vom Februar und März 1984 eine zweiteilige Reportage über Heinrich Federer, verfasst von Hansruedi Fritschi. Ich habe sie hauptsächlich als Quelle benutzt. Fritschi bringt im zweiten Teil den vollständigen Brief Federers an den Regierungsrat von Nidwalden mit der ausführlichen Schilderung dessen, was auf dem Stanserhorn geschah. Ich sehe keinen Grund, daran zu zweifeln. Weitere Quellen sind die "Überlegungen zu einem Schriftsteller, der für die Gegenwart neu zu entdecken ist" von Charles Linsmayer am Ende des 1981 im Verlag Die Arche, Zürich, herausgekommenen Bandes "Heinrich Federer, Gerechtigkeit muss anders kommen, Meistererzählungen".Und natürlich haben die Zeitschriften Menschenrecht und Der Kreis diesen Grossen unter den Schweizer Dichtern nicht unbeachtet gelassen.
Mehr dazu auf Heinrich Federer
LGBTQ-Geschichte der USA im Internet
eos. Am internationalen Coming Out Day (COD, 11. Oktober 2016) wurde die Geschichte der LGBTQ-Gemeinschaften der USA offiziell ins Internet gestellt, und zwar vom staatlichen National Park Service zu seinem hundertjährigen Bestehen. Zugleich wurde sie an einer Medienkonferenz durch das US-Department of the Interior in Washington D.C. offiziell vorgestellt. Ein grosses Ereignis für die amerikanische und auch für die ganze weltweite Community:
Geschichte der LGBTQ-Gemeinschaften der USA
Die Website setzt Massstäbe. Sie deckt ein sehr weit gestreutes Feld der LGBTQ-Geschichte ab und handelt von diversen Wegen zur Emanzipation, von Problemen und Entwicklungen in Bereichen wie Gesundheit, Sport, familiäres Umfeld, Arbeitswelt, von Stellung und Leben bei ethnischen Minderheiten und auch vom Umgang mit dem vorhandenen historischen Erbe. Den jetzt veröffentlichten 32 Kapiteln verschiedener Autorinnen und Autoren können weitere folgen. Hier einige Kapitel-Beispiele:
Chapter 3: Introduction to Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, and Queer (LGBTQ) History in the United States
Chapter 4: The History of Queer History: One Hundred Years of the Search for a Shared Heritage
Chapter 9: Sexual and Gender Diversity in Native America and the Pacific Islands
Chapter 13: "Where We Could Be Ourselves": African American LGBTQ Historic Places and Why They Matter
Chapter 18: LGBTQ Civil Rights in America
Chapter 21: Struggles in Body and Spirit: Religion and LGBTQ People in US History
Chapter 23: LGBTQ Art and Artists
Chapter 25: San Francisco: Placing LGBTQ Histories in the City by the Bay
Chapter 30: Nominating LGBTQ Places to the National Register of Historic Places and as National Historic Landmarks: An Introduction
Chapter 32: Teaching LGBTQ History and Heritage
Wir hoffen gerne, dass bald andere Nationen wie Deutschland, Frankreich oder England nachziehen und ihre LGBTQ-Geschichte aufarbeiten und zugänglich machen.