Newsletter 128

August 2020

Diese Ausgabe enthält folgende Themen:

  • Vor 50 Jahren offen diskutiert: Pädophilie
  • Generalversammlung in Zeiten von Corona

Vor 50 Jahren offen diskutiert: Pädophilie

eos. Macht dieser Titel stutzig? Heute ist doch alles offener und selbstverständlicher als früher. Wirklich? Altgriechisch heisst "pais" Kind, Junge; Mehrzahl "paides" Kinder, Jungs. Und "philos" heisst Freund. Ein Pädophiler ist also ein Kinderfreund oder Freund von Jungs. Jeder gute Vater oder Erzieher/Lehrer muss ein Kinderfreund, also ein Pädophiler sein. Diese Feststellung weckt Widerspruch, denn die Bedeutung des Wortes ist heute eine andere und liegt im strafbaren Bereich. Offenbar missbrauchen wir dieses Wort stets, wenn wir damit Menschen bezeichnen, die Kinder missbrauchen. Korrekt müssten wir sie Pädosexuelle nennen. Warum ist eine solche Fehlform üblich geworden?

Dieser Frage konnte man damals in den frühen 1970er Jahren unverkrampfter nachgehen als heute, auch öffentlich. Es war die Zeit der sexuellen Befreiung. Sie lief parallel zu weiteren Befreiungsbewegungen, jener der Schwarzen, der Frauen, der Gay Liberation. "Aufbruch" hiess das Stichwort.

Schlagworte wie "Political correctness", "#MeToo" und andere zeugen davon, dass Veränderungen des Denkens und Handelns weiter stattfinden und (noch) nicht abgeschlossen sind. Die dahinter stehenden Bewegungen tragen aber ein Potential der Ächtung in sich, das erkennbar ist und gelegentlich bis ins Fundamentalistische reicht. Damit werden neue moralische Gefängnisse geschaffen, wo doch die Befreiung der Menschen das Ziel der Bewegung war. Wer beim obigen Titel Widerspruch in sich aufkommen sieht, sollte sich vielleicht fragen, wieweit damit die Freiheit des Denkens beschnitten werden soll (oder ob die Freiheit des eigenen Denkens bereits beschnitten worden ist).

In den 1970er Jahren und bis zum Ende des Jahrhunderts dachte kaum jemand "etwas", wenn ein Lehrer seine Schulkinder umarmte, ihnen beim Turnen oder Schwimmen Hilfe bietend nahe kam, während der Prüfung mit einem Scherz und Schulterklopfen die Verkrampfung löste oder ihre Wangen und Hände berührte. Die Nähe zur Schülerin, zum Schüler war selbstverständlich, ja pädagogisch erwünscht, denn sie schuf Raum für Vertrauen, in dem das Lernen und Sich-Entwickeln stattfinden konnte. Unverklemmte, menschliche Nähe zulassende Erziehung war ganzheitliche Förderung mit dem Ziel einer freien, selbständigen Entfaltung. Man nannte es "antiautoritäre Methode". Sie entsprach einem Ideal, das die Befreiung und Stärkung des jungen Menschen fördern wollte, aber in seiner Absolutheit die Gefahr von Missbräuchen weitgehend ausklammerte.

Die neue, verjüngte Redaktion der Zeitschrift club68 wählte 1970 den Begriff "Minderjährige" zum Jahresthema. Pädophilie war explizit mitgemeint. Eine Serie von Hinweisen zur rechtlichen Lage in der Schweiz wie auch Besprechungen von zwei neuen, aufklärenden Büchern sollte eine breite Diskussion für Leser, Autoren und Fachleute auslösen. Sie wurde innerhalb der Leserschaft offen, gelegentlich heftig und auch persönlich geführt und dauerte bis in den Februar 1971 hinein. Noch heute wirkt dieser Austausch von Ansichten und Erfahrungen anregend und schafft Einblick in eine Zeit des Umbruchs, der Öffnung und Bereitschaft zum Experiment.

Zu jener Zeit war die männliche Prostitution noch verboten und es galt das Schutzalter für Männer bis zum 20. und für Frauen bis zum 16. Lebensjahr. Beides änderte sich erst 1992 mit der Revision des schweizerischen Strafgesetzes, das ein Schutzalter von 16 für alle festlegte. Sex mit 19-jährigen und jüngeren Männern war also bis zur Revision strafbar. Sie galten als Minderjährige. Jeder, der es tat, konnte als Verführer angeklagt, gesetzlich verfolgt und verurteilt werden. Die Diskussion im club68 sollte auch den Druck auf eine dringende Anpassung des Gesetzes erhöhen und dazu beitragen, dass die Veränderungen bei der körperlichen Entwicklung junger Männer endlich berücksichtigt würden. Zudem, und das ist von heute aus gesehen entscheidend wichtig, in der Diskussion unterschieden Redaktion und die Leser in ihren Beiträgen klar zwischen Sex mit geschlechtsreifen Jungen und Sex mit noch unreifen Kindern. Das Erste galt als Pädophilie, das Zweite blieb bewusst ausgeklammert.

Auf der mit "Pädophilie" betitelten Webpage von schwulengeschichte.ch wird u.a. auf diese Diskussion eingegangen. Zitate aber fehlten fast ganz. Nun haben wir das geändert und etliche Zuschriften eingefügt, Berichte von Lesern, die sich zu Jünglingen in besonderer Weise hingezogen fühlten. Dadurch wird diese Webpage lebendiger und trägt ihre Überschrift zu Recht. Wir wählten signifikante Abschnitte, die einerseits den Jugendschutz betreffen und andererseits das grundsätzlich selbständige Entfalten der Sexualität im Heranwachsenden thematisieren, also auch die je eigene Entwicklung der sexuellen Neigung entweder zum anderen oder zum gleichen Geschlecht. Von einer Entwicklung zum Verlangen nach beiden Geschlechtern schrieb niemand, und vom nicht Festlegbaren oder einem Hin und Her zwischen den Geschlechtern sprach man noch nicht.

Im club68-Oktoberheft 1970 stellte der für Soziologie und Theologie zuständige Redaktor Daniel Dieter ein eben erschienenes Buch vor, das sofort in weiten Kreisen intensive Kontroversen auslöste. Sein Verfasser war Edward Brongersma, ein niederländischer Wissenschafter. Es trug den Titel "Das verfemte Geschlecht, Dokumentation über Knabenliebe". Die deutsche Übersetzung stammte von Johannes Werres, der als ehemaliger Mitarbeiter des Kreis den meisten Lesern nicht unbekannt war. Aus der Besprechung dieses Buches haben wir neu weitere Abschnitte hinzugefügt. Mit ihr eröffnete die Redaktion ihre schon lange angekündigte Diskussion zum Thema "Minderjährige".

In seinem Beitrag "Kampf gegen Pornographie ist widernatürlich" schloss Johannes Werres diese Diskussion ab. Er wirkt teilweise wie eine Zusammenfassung. Darum seien hier einige Passagen zitiert (club68, Nr. 2/1971, Seite 8):

"Die Darstellung des sexuellen Aktes, der sexuellen Vereinigung, war vielen alten Religionen und Kulturen und ist auch heute noch vielen Primitivreligionen heilig. Sie war und ist das Sinnbild der Vereinigung des Göttlichen mit dem Menschlichen. Das Christentum hat diesem Akt die natürliche, ihm innewohnende gesinnungsmässige Reinheit genommen und ihn zur Sünde degradiert – ausgenommen, wenn er der Zeugung eines Kindes diene. […]
Die Sexualität dient [aber] nicht in erster Linie […] der Erzeugung von Nachkommenschaft, sie ist auch nicht nur blosse Quelle der Lust. Infolge eines ganzen Komplexes von Teilinstinkten wird die Sexualität über die Person des Einzelnen hinaus für die Partnerschaft und die Gesellschaft wichtig, vor allem durch den Sozialinstinkt. […]
Es ist […] nicht nur völlig falsch, sondern darüber hinaus unwirksam, die Jugend vor der Sexualität schützen zu wollen. Sie gelangt zur sexuellen Reife in dem Alter, das ihr typisch zukommt; sie handelt sexuell, wenn es ihre Hormone befehlen; sie schützt sich selbst gegen instinktwidrige sexuelle Zudringlichkeiten durch automatisch anspringende Schutz- und Abwehrinstinkte. […]
Die Sexualität selbst hat in ihrer partnerschaftlichen Form bereits eine erzieherische und soziale Wirkung. Deshalb können auch homosexuelle Beziehungen durchaus förderlich sein. Der Jugend steht mit Pubertätsbeginn das Recht auf Sexualität zu, also z.T. schon in einem Alter, da sie heute noch juristisch als 'Kind' geschützt ist. Dieses Recht wird sie sich entweder nehmen oder man muss es ihr geben. […]"

Im ganzen Jahrgang 1970 brachte club68 natürlich nicht nur das Thema "Minderjährige" zur Diskussion, es gehörten auch andere immer wieder zentrale Anliegen und Fragen dazu, wie das Altwerden des schwulen Mannes und "Homosexuelles Sein und Handeln - eine Sünde?" Neben vielen literarischen Beiträgen und den beliebten Lebensbildern von Berühmtheiten, die gleichgeschlechtlich liebten, gab es zudem aktuelle Nachrichten und Kommentare.

Mehr dazu auf der Webpage "Pädophilie"

Generalversammlung in Zeiten von Corona

hpw. Aufgrund der Corona-Krise entschied der Vorstand des Vereins schwulengeschichte.ch die Generalversammlung 2020 brieflich durchzuführen. Er stützte sich dabei auf die Bestimmungen der Covid-19-Verordnung II des Bundesrates.

Die notwendigen Unterlagen wurden am 14. Juni 2020 per Mail an alle Vereinsmitglieder versandt. Als Einsendeschluss für die ausgefüllten Stimmkarten und Stimmzettel war fristgerecht der 9. Juli festgelegt.

Als Stimmenzähler waren Ernst Ostertag und Giovanni Lanni vorgeschlagen. Sie wurden einstimmig gewählt. Die Auszählung der eingegangenen Stimmzettel ergab, dass die Jahresrechnung und das Budget von allen Abstimmungsteilnehmern angenommen wurden. Dem Vorstand wurde Entlastung erteilt. Der bisherige Vorstand bestehend aus Hans Peter Waltisberg, Präsident und Redaktor; Mauro Smedile, Kassier, und Peter Rubli, Administration, wurde wiedergewählt. Ebenfalls wiedergewählt wurden die Revisoren René Forster und Franz Freuler.

Der Vorstand dankt allen, die an der brieflichen GV teilgenommen haben. Ebenfalls danken wir für das Vertrauen, das uns gegenüber ausgesprochen wurde.

Wie der Vorstand schon im Mail zur GV schrieb, werden wir eine Zusammenkunft organisieren, sobald die Umstände einen gemütlichen Rahmen erlauben. Bis dahin wünschen wir allen einen schönen Sommer und eine gute Zeit.