Newsletter 170
Februar 2024
Diese Ausgabe enthält die folgenden Themen:
- Vor 40 Jahren: Schwule Medizinmänner
- Das gilt auch heute: Diskriminierung führt zu mehr HIV-Infektionen
Vor 40 Jahren: Schwule Medizinmänner
eos. Heute nehmen wir PrEP, wenn wir uns beim Sex nicht einschränken wollen. Und wenn wir uns mit dem Retrovirus HIV infiziert haben, sind Medikamente vorhanden, die den Ausbruch von Aids verhindern. So ist das Leben mit HIV ein normales, das durch die Infektion nicht mehr wesentlich eingeschränkt wird.
Vor vierzig Jahren war das ganz anders. Ab 1983 gab es die ersten Aids-Fälle in der Schweiz. Aids war tödlich und blieb das vierzehn Jahre lang, abgesehen von ganz wenigen Ausnahmen. Es war ein Dahinsiechen mit vielen Krankheitsbildern vom Kaposi Sarkom über Lungenentzündungen bis Erblinden. Und der Tod erschien als Erlösung für alle, für den Aids-Kranken wie für seine Nächsten. Der Tod holte kerngesunde junge Männer im besten Alter.
Die mühsam errungenen Fortschritte beim Aufbau von funktionierenden Organisationen homosexueller Männer und Frauen, der Kampf zur Überwindung der allgemeinen Ächtung unserer Liebe, all das war akut gefährdet. Angst vor einer Epidemie, vor der Ausbreitung des Virus in die gesamte Bevölkerung beherrschte alle, egal ob schwul oder heterosexuell, Frau oder Mann. Darum musste dringend die Ungewissheit beendet und jedes Aufkommen von Gerüchten vermieden werden.
Die Homosexuellen-Organisationen in der Schweiz suchten den Ausweg einerseits im Zusammenschluss von schwulen Ärzten und der Weitergabe ihres momentanen Wissens über die Krankheit, andererseits in der Zusammenarbeit mit den staatlichen Gesundheitsbehörden. Das gelang. Dennoch, Überlebende um 1990 hatten Adresslisten mit fast nur durchgestrichenen Namen. Beinahe eine ganze Generation wurde ausgelöscht. Sie fehlt bis heute.
Düstere Zeiten und Berge von Arbeit für schwule Medizinmänner
Am 11. Februar 1984 trafen sich Schwule aus dem Gesundheitsbereich erstmals mit Leitern von Dachorganisationen wie SOH (Schweizerische Organisation der Homophilen) und HACH (Schweizerische Organisation der kantonalen Homosexuellen Arbeitsgruppen). Treffpunkt war ein Café beim Berner Zytglockenturm. Gemeinsam gründeten sie die Vereinigung "Schwule Medizinmänner". Man gab sich ein weit gestecktes Programm und jeder wusste, die Zeit drängt, Berge von Arbeit stehen an. Im Einladungsschreiben waren die folgenden Sätze zu lesen:
"Gesundheitliche Fragen sind immer auch gesundheitspolitische Fragen. Krankheit bei Schwulen und ihre therapeutischen Massnahmen haben, weil es sich um uns handelt, häufig eine politische und moralische Wertung, die sonst nicht derjenigen der Laienpresse und des von Heteros strukturierten Gesundheitswesens entspricht."
Einen Monat später fand die erste Arbeitssitzung der neuen Gruppe ebenfalls in Bern statt. Man beschloss einen Tätigkeitsplan. Die Arbeit begann u.a. mit Information der Presse. Und am Berner CSD vom 23. Juni stellten sich die Medizinmänner der Öffentlichkeit vor. Inzwischen hatte ein Austausch mit Dr. med. Bertino Somaini begonnen, dem Leiter des Meldewesens für Infektionen und Prävention im BAG (Bundesamt für Gesundheit). Daraus entwickelte sich später jenes für die Schweiz typische Zusammenwirken der hauptsächlich Gefährdeten mit staatlichen Behörden, das bis heute als erfolgreiche Strategie zur Eindämmung der Krankheit gilt.
Aber die Gegenwart war düster, das Fortschreiten der Ausbreitung der Krankheit alarmierend. Im Juni 1984 gab es in der Schweiz etwa 10 bekannte Aids-Kranke, im Januar 1985 waren es 41, davon waren 26 schon verstorben. Aus den USA, wo Aids zuerst als Epidemie erkannt wurde, trafen schockierende Bilder und Nachrichten von sich selbst überlassenen Todkranken ein. Auch Meldungen über Ausgrenzung in europäischen Ländern schreckten auf. Das waren falsche Entwicklungen. So trieb man die Angesteckten in den Untergrund und verdrängte die Krankheit statt sie zu erforschen und ihre Verbreitungswege offenzulegen.
Die Aufklärung in eigene Hände genommen
In Bern dachte man über Aufklärung der Betroffenen und der übrigen Bevölkerung nach. In Zürich, wo rasch feststand, dass hier die meisten Infizierten lebten, konnte im Dezember 1984 ein erster Informationsabend stattfinden
"für alle Schwulen, die sich nicht länger durch die Massenmedien in Angst und Schrecken versetzen lassen wollen, die richtig kompetent und sachlich informiert werden wollen, die sich und die anderen vor AIDS schützen wollen".
Das Programm bestand aus drei Teilen: Einführung, Information, Fragen und Diskussion. Leiter und Referent war Dr. med. Ruedi Lüthi, Oberarzt für Infektionskrankheiten am Zürcher Universitätsspital. Es wurde streng darauf geachtet, dass der Anlass nur Interessierten und Betroffenen galt und vor allem keine Presseleute davon erfuhren. Der Persönlichkeitsschutz von anwesenden Erkrankten und akut Gefährdeten hatte erste Priorität. Denn an sie und ihre Betreuer richtete sich das Ganze. Im Mai 1985 gab es einen zweiten Info-Abend, an dem Dr. Lüthi von neuesten Erkenntnissen am Internationalen Aids-Kongress in Atlanta (USA) berichtete.
Natürlich meldete sich auch die eidgenössische Politik, etwa mit dem Vorstoss eines Parlamentariers, der die Meldepflicht von Aidskranken forderte. Genau das aber wollte kein Erkrankter und auch niemand der landesweiten Gemeinschaft von Homosexuellen. Es wäre einem erneuten Schwulen-Register gleich gekommen und hätte die eben gewonnene Zusammenarbeit mit den Behörden massiv gefährdet. Der Bundesrat sah dies ebenso und entschied im September 1985, der eingeschlagene Weg sei weiterzuführen. Das wurde getan.
Breit abgestützte Aids-Hilfen gegen die Ausgrenzung
Bereits am 2. Juni 1985 konnte in Zürich die Aids-Hilfe Schweiz (AHS) gegründet werden. Dies von zwölf schwulen Organisationen aus diversen Kantonen gemeinsam mit Gruppierungen wie den "Ledermännern". Die AHS sollte als Bindeglied der hauptsächlich Betroffenen zu den Gesundheitsbehörden dienen und auch eine Dachorganisation sein für noch zu gründende kantonale Sektionen. Im Mittelpunkt standen die grossen drei Tätigkeitsfelder: 1. Landesweite Aufklärung, 2. Prävention, 3. Solidarität mit den Erkrankten, also Hilfe statt Ausgrenzung.
An einer gross aufgezogenen Pressekonferenz am 2.Juli 1985 in Bern wurde diese Antwort auf Aids der Öffentlichkeit vorgestellt, durch das Bundesamt für Gesundheit (BAG) und den Präsidenten der AHS, André Ratti. Als Moderator der beliebten TV-Sendung "Menschen, Technik, Wissenschaft" war er landesweit bekannt und seine Begrüssung wurde zum Schlagwort:
"Ich heisse André Ratti, ich bin schwul und habe Aids."
Es war das erste Outing einer öffentlichen Person als Homosexueller und als Aids-Kranker. Damit erhielt das Heimtückische hinter den vier Buchstaben A, I, D, S ein Gesicht, es wurde fassbar.
Im November 1985 lancierte die AHS den "Hot Rubber", das Kondom für den schwulen Mann, das genau seine Bedürfnisse abdeckte und lebensrettend war. Nun hiess es "Ohne Dings kein Bums". Im folgenden Jahr wurde die Hot Rubber Company als Abteilung der AHS gegründet, womit sichergestellt wurde, dass die Qualität hochwertig war, die Einnahmen direkt der AHS zuflossen und der Preis mit 1 Franken niedrig blieb.
Mit Information gegen die Hysterie
Die erste grosse gemeinsame Aktion des Bundesamts für Gesundheit mit der AHS fand vier Monate später, im März 1986 statt: Eine allgemeine Aufklärungskampagne über Aids. Wie bei Unterlagen zu Wahlen und Abstimmungen wurden Broschüren in sämtliche Briefkästen der Schweiz verteilt. Darin stand in klaren Sätzen zu lesen, was Aids ist, wie das Virus übertragen wird, wie man sich ansteckt und was zum Schutz vor Ansteckung zu tun ist. Abschliessend hiess es, mit der Kenntnis über die Krankheit können "Sie persönlich verantwortungsvoll handeln". Die Broschüre sollte Hysterie und Ausgrenzung verhindern. Denn Entwicklungen in umliegenden Ländern zeigten, dass Ansteckungsraten weiter steigen, wenn Repression die Erkrankten ausgrenzt und Ignoranz oder Schamgefühle die Krankheit verdrängen.
Was auf Bundesebene geschah fand sofort das entsprechende Echo in den Kantonen. Kantonale Aids-Hilfe-Gruppen im Verbund mit den lokalen Gesundheitsdiensten nahmen die Arbeit an der Basis auf, bei den Erkrankten, ihren Nächsten, in der Prävention, mit Info-Veranstaltungen, Beratung, dem Telefondienst. Im November 1985 kam es zur Gründung der ZAH (Zürcher Aids-Hilfe), im Dezember folgte die AHB (Aids-Hilfe Bern), 1986 dann die AHbB (Aids-Hilfe beider Basel, Stadt und Land) und 1987 die GSG (Groupe Sida Genève). Mehr oder weniger gleichzeitig gab es weitere kantonale Gründungen.
Aber alles begann mit zwei schwulen Ärzten
Alle diese Entwicklungen begannen mit zwei schwulen Berner Ärzten, Peter Maurer und Rolf Hotz, die Anfang 1984 erkannten, dass nur Schwule selbst diese Krankheit medizinisch wirksam bekämpfen können, indem sie sich mit anderen Schwulen verbinden. Dies, weil die Krankheit in Europa hauptsächlich sexuell aktive Schwule traf und tötete. Die Gründung der Gruppierung "Schwule Medizinmänner" war der Beginn aller danach rasch folgenden Entwicklungen und Massnahmen. Das sind jetzt 40 Jahre her.
Detaillierte Angaben zu einer Erfolgsgeschichte, die aus einer Seuche unter meist Verachteten in die schliessliche Akzeptanz dieser Mitbürger führte:
Schwule Medizinmänner
Zeittafel 1984-1997
Nationale Aids-Broschüre 1986
Das gilt auch heute: Diskriminierung führt zu mehr HIV-Infektionen
hpw. Der Weg der Schweiz durch die Aids-Epidemie gilt als Erfolgsgeschichte. Staatliche und zivilgesellschaftliche Akteure haben in den 1980er Jahr schnell begriffen, dass wir nur gemeinsam durch diese Krise kommen und Diskriminierung ganz sicher kein gangbarer Weg ist. Wir berichten im aktuellen Newsletter darüber. Ein neuer UNO-Bericht verdeutlicht, wie klug der damalige Entscheid war. Leider hat sich die Erkenntnis noch immer nicht überall durchgesetzt.
Weltweit sind der Kampf gegen HIV und der Diskrimnierungsschutz von homosexuellen und bisexuellen Menschen eng miteinander verbunden. Im Bericht "HIV and the Global De/criminalization of Same-Sex Sex" von 2023 präsentiert die UNO Zahlen zum Zusammenhang von Kriminalisierung und Verbreitung von HIV. In Ländern, die Homosexualität verfolgen, sind schwule und bisexuelle Männer mit zwölf Mal höherer Wahrscheinlichkeit HIV-infiziert als in Ländern, in denen Männer, die Sex mit Männern haben, keiner Verfolgung ausgesetzt sind. Die UNO berichtet, der Trend laufe allgemein Richtung Entkriminalisierung. Angesichts solcher Zahlen ist es allerdings umso bedenklicher, dass in den letzten Jahren auch wieder vermehrt Gesetze gegen Menschen der LGBT Community in Kraft getreten sind - beispielsweise in Uganda.
UNO-Bericht "HIV and the Global De/criminalization of Same-Sex Sex"
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