Newsletter 171

März 2024

Diese Ausgabe enthält das folgende Thema:

  • Ein Theaterstück an der Front

Ein Theaterstück an der Front

eos. März ist der Monat des römischen Kriegsgottes Mars. Bei den alten Griechen hiess er Ares und zwei seiner Söhne waren Deimos, der Schrecken, das Grauen und Phobos, die Furcht oder Angst/Phobie. Sie gingen ihrem Vater voraus. Grauen und Angst wirkt lähmend, der Krieg tödlich. Dennoch: Ihre Mutter war die Liebesgöttin Aphrodite, und deren weitere Kinder mit dem Kriegsgott als Vater waren Tochter Harmonia, die Eintracht, und Sohn Eros, der als listiger Knabe Liebespfeile verschiesst und als mächtiger Gott das Chaos ordnet. Im frühen Altertum gab es nie nur das Eine, immer wurde auch die Gegenseite mitgedacht. Grauen und Angst konnten angegangen und harmonisch aufgelöst, die Zerstörungen des Krieges durch Verstehen und Liebe wieder geordnet werden. Auch vor 80 Jahren inmitten des unermesslichen Leidens und Tötens des 2. Weltkriegs kam es am Rand zu harmonischen Momenten. Der Kreis berichtete darüber und ordnete sie ein.

Heute erleben wir erneut Hass, Grauen und Krieg im europäischen Osten und am Ostrand des Mittelmeers. Für viele von uns ist das Entsetzen erstmals so nahe, hilfloses Zuschauen unerträglich. Und antwortlose Fragen ängstigen.

Da taucht ein uralt erprobtes böses Mittel wieder auf: Gefahren billig mit Sündenböcken bannen und die "Guten" gegen "Schuldige" ausspielen. Wird dieses Denken propagiert, gehören wir queeren Menschen rasch zu den ersten Opfern - zusammen mit den Juden. Das lehrt uns die Geschichte und wir alle wissen, das ist einäugig, falsch, und schafft nur neues Leid. Denn es ist faschistisches Schwarz-Weiss-Denken. Es verunmöglicht echte Lösungen, verlagert und verlängert die Probleme. Ebenso klar ist, jeder Krieg endet im Herstellen einer Ordnung. Soll sie dauern, muss Versöhnung, Harmonie wachsen können. Das wussten schon die alten Griechen.

Harmonie inmitten masslosen Tötens

Vor achtzig Jahren war auch Krieg in der Ukraine. Die sehr Alten unter uns erinnern sich genau. Das Geschehen des Zweiten Weltkriegs prägte sie. Die Armeen der Nazis hatten ihn mit Vernichtungszügen begonnen. Ab Sommer 1941 mussten sich die Russen verteidigen. Anfang Februar 1943 errangen sie in Stalingrad den ersten Sieg, wie es auch den Briten mit Verbündeten zwei Monate zuvor bei El Alamein, Ägypten, gelang. Damit wendete sich der Krieg und fand sein Ende in der bedingungslosen Kapitulation der Nazis am 8. Mai 1945. Das Morden unter den Soldaten aller Armeen und das unermessliche Leiden und Töten der Zivilbevölkerung überstieg alles, was es je zuvor gegeben hatte.

Aber ereigneten sich trotz allem auch Momente harmonischer Menschlichkeit, winziges Aufblühen des ganz Anderen, irgendwo am Rande? Ja, Augenzeugen meldeten gelegentlich solche "Zufälle", aber selten. Es hätte als Sabotage gelten können. Von einem solchen Beispiel berichteten die Basler Nachrichten am 16. März 1944, von einer Geschichte, die sich etwa ein Jahr früher zugetragen haben musste, als die grossen deutschen Rückzüge in Russland noch bevorstanden. Das Basler Blatt bezog sich dabei auf die DAZ, Deutsche Allgemeine Zeitung, das einzige noch einigermassen unabhängige Presseerzeugnis im Nazi-Reich.

"Am Rande des Todes ein Theatererlebnis"

Für seine Zeitschrift Der Kreis - Le Cercle war Karl Meier / Rolf immer auf der Suche nach besonderen Meldungen. So nahm er - in der Rubrik "Spiegel der Zeit" - auch diesen Bericht in die Ausgabe vom April 1944, S. 22 und setzte den Titel "Faust und Gretchen am Flakgeschütz". Denn es handelte sich um eine Aufführung von Goethes "Faust" durch Soldaten an der deutschen Ostfront:

"Eine eigenartige 'Faust'-Aufführung vollbrachten die Kanoniere einer deutschen Flakbatterie am östlichsten Punkte der Krim, auf [der Halbinsel] Kertsch. 'Auf einer Naturbühne ohnegleichen', heisst es in einem Bericht der DAZ darüber. 'Rechts und links wuchsen wilde Felsbrocken empor, durch die das Meer in ewig wechselnder Gestalt und Beleuchtung schimmerte, daneben ragten die Rohre der schweren Flakgeschütze.' Die Detonationen der Geschosse und die Brandung des Meeres bildeten die orchestrale Untermalung, und auch die anderen Umstände der Aufführung waren ungewöhnlich: Die Erzengel standen, in lange weisse Soldatenpelze gehüllt, auf drei bizarr geformten Felsen und Gretchen sowie die anderen Frauenrollen wurde wie in der antiken Tragödie von Männern gespielt. Den Faust verkörperte der Batteriechef selber, ein junger, ein wenig als Sonderling geltender Oberleutnant, der zugleich der Inspektor des Unterfanges war; sein Adjutant gab den Mephisto, der, in der Pudel-Szene, aus dem Explosionsqualm einer Sprengpatrone schlüpfte. Denn auch die Requisiten wurden von der Realistik des Krieges geliefert: Das Sturmgeheul der Walpurgisnacht erzeugten Luftschutzsirenen, und als Kessel für die Zauberdämpfe der Hexenküche diente ein Stahlhelm. Vor der grossen Domszene allerdings trat etwas Unerwartetes ein, sechs russische Schlachtflieger erschienen am Himmel. 'Faust, Mephisto und Gretchen', so schreibt der Berichterstatter, 'eilten an die Geschütze, und nach Vertreibung des Gegners konnte das Spiel seinen Fortgang nehmen.' Die wohl in jeder Beziehung einmalige Inszenierung ist auch insofern interessant, weil sie über die Gretchen-Tragödie hinausgriff in den zweiten Teil des 'Faust' und als Schluss Fausts Tod hinzufügte mit der beglückenden Vision der 'Räume vielen Millionen' und dem Sehnsuchtswunsche, 'auf freiem Grund mit freiem Volke' zu stehen." *)

*) Kurz vor dem Tod spricht Faust von seinen Plänen der Entwässerung einer Sumpfgegend, um den Menschen neues Land und freies Entfalten zu schaffen:

"Das letzte wär das Höchsterrungene, Eröffn ich Räume vielen Millionen, Nicht sicher zwar, doch tätig-frei zu wohnen."

Und etwas später:

"Solch ein Gewimmel möcht ich sehn, Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn!"

Karl Meier / Rolf fügte noch einen Kommentar hinzu, der hier nicht weggelassen sei:

"Seltsame Zeit - die die gesündesten jungen Männer gegeneinander hetzt und am Rande des Todes ein Theatererlebnis aufblühen lässt, das an antike Vorbilder erinnert. Ein Gretchen-Darsteller angesichts des stündlich drohenden Todes - wie die Sehnsucht der Menschen nach einem schöneren Dasein Gesetze und Gefahren über den Haufen wirft! […]"

In derselben Rubrik unter dem Titel "Lichter in der Nacht der Zeit" brachte Karl Meier / Rolf im Heft 12/1944, S. 15. den Bericht eines Augenzeugen im Tessin, entnommen der Zeitschrift Sie und Er, Nr. 38/1944. Dort wird von einer Kolonne Uniformierter erzählt, deutsche Zöllner, eben über die Grenze geflohen, nun interniert und waffenlos in perfekter Ordnung dem Kantonnement entgegen marschierend, das ihnen offenbar zugewiesen war. Hinter ihnen ein paar italienische Partisanen, ebenfalls interniert, abgemagert, am Ende ihrer Kräfte, einer schweres Gepäck schleppend. Ein Deutscher sieht das, geht hin, nimmt den Sack "gib her, Kamerad". "Grazie, amico." Gestern noch Feinde.

Auf derselben Seite des Kreis-Hefts 12/1944 erschien ein Abschnitt aus einem Bericht in der Weltwoche vom 22. September 1944. Darin wurde u.a. vom missglückten Hitler-Attentat am 20. Juli 1944 geschrieben und genauer auf den Hauptverantwortlichen eingegangen, Claus, Graf Schenk von Stauffenberg. Denn dieser habe dem George-Kreis angehört und sei einer der Lieblingsschüler des (homoerotischen) Dichters Stefan George gewesen. "Der Ring des Lebens", ein Gedicht Georges, beschloss diese Kreis-Seite. Mit diesem Bericht wollte die Redaktion auf das Überleben und wieder Erwachen deutscher Geistestradition hindeuten - nach der Lethargie durch faschistische Gleichschaltung.

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Spiegel der Zeit
und in den digitalisierten Kreis-Heften
Der Kreis - Le cercle, Ausgabe 1944, Heft Nr. 12, Seite 15