Spiegel der Zeit

Lichter in der Nacht der Zeit

Unter dem Titel "Faust und Gretchen am Flakgeschütz" brachte der Kreis einen Bericht aus den Basler Nachrichten vom 16. März 19441:

"Eine eigenartige 'Faust'-Aufführung vollbrachten die Kanoniere einer deutschen Flakbatterie am östlichsten Punkt der Krim, auf der Halbinsel Kertsch. [...] Gretchen sowie die anderen Frauenrollen wurden wie in der antiken Tragödie von Männern gespielt. Den Faust verkörperte der Batteriechef selber, ein junger, ein wenig als Sonderling geltender Oberleutnant, [...] sein Adjutant gab den Mephisto, der in der Pudelszene aus dem Explosionsqualm einer Sprengpatrone schlüpfte. [...] Die wohl in jeder Beziehung einmalige Inszenierung ist auch insofern interessant, als sie über die Gretchentragödie hinausgriff in den zweiten Teil des 'Faust' und als Schluss Fausts Tod hinzufügte mit der beglückenden Vision der 'Räume vielen Millionen' und dem Sehnsuchtswunsche, 'auf freiem Grund mit freiem Volke' zu stehen."

Rolf fügte den Kommentar hinzu:

"Seltsame Zeit - die die gesündesten jungen Männer gegeneinander hetzt und am Rande des Todes ein Theatererlebnis aufblühen lässt, das an antike Vorbilder erinnert. [...] Wie die Sehnsucht der Menschen nach einem schöneren Dasein Gesetze und Gefahren über den Haufen wirft! [...] Dass ein einigermassen erträglicher Gretchen-Darsteller homoerotisch empfinden muss, wird wohl jeder Einsichtige nicht leugnen können."

Auch das misslungene Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944 und Claus, Graf Schenk von Stauffenberg war ein Thema. Der Hinweis auf mögliche Hintergründe und Verbindungen zum (u.a. homoerotischen) Dichter-Kreis um Stefan George stammte aus der Weltwoche vom 22.11.19442:

"Wir erlebten in der letzten Zeit erste Zeichen des Erwachens aus der Lethargie. Die Generalsrevolte war eines dieser Zeichen. Es ist sicher mehr als ein Zufall, dass von den prominenten Verschwörern verschiedene aus dem George-Kreis stammen, und dass Graf Stauffenberg einer der Lieblingsschüler von Stefan George war, der dem Meister besonders nahe stand. Es zeigt sich hier, dass sensible Menschen auch im Dritten Reich die Unhaltbarkeit der Lage zu spüren beginnen."

Der Kreis hatte an den Anfang seiner ersten Ausgabe, 1/1943, auf Seite 1 ein Gedicht von Stefan George (1868-1933) gesetzt.

Ein Nachdruck eines Augenzeugenberichts aus der Sie und Er (Nr. 38/1944) schilderte ein Erlebnis, "Licht in der Nacht der gegenwärtigen Zeit"3.

"Mein letztes Erlebnis hatte ich noch am Abend in Locarno, als ich zur Bahn ging und einem Trupp deutscher Zöllner begegnete, die bei Splügen die Schweizergrenze überschritten hatten. Sie kamen in Viererkolonnen in tadellosen Uniformen und tadellosem Gleichschritt. Die Leute sahen sie an - würdig und schweigend. Die letzte Reihe dieses sonderbaren Zuges bildeten aber fünf junge Partisanen, die ich am Morgen ankommen gesehen hatte und die nun mit ins selbe Lager kamen. Einer der fünf hatte einen schweren Sack auf dem Rücken, er war aber so müde, dass er ihn nicht weiter schleppen konnte. Da dreht einer der Deutschen sich um, sieht die Nöte des Hintermannes, tritt aus der Reihe, marschiert neben dem Partisanen, sagt nur: 'Gib's, Kamerad', und nimmt den Sack. [...] Das Wörtchen 'Kamerad' war so unsinnig, so sinnlos zwischen zwei Menschen, die doch noch ein paar Stunden vorher einer dem anderen nach dem Leben getrachtet hatten. Und doch war es im Augenblick dem Deutschen ernst damit. Auch er war Flüchtling wie der andere, auch er geschlagen und besiegt. So sagte er 'Kamerad' und so gab ihm der andere den Pack und murmelte: 'Grazie, amico' und meinte es ernst."

Ernst Ostertag, November 2004

Quellenverweise
1

Der Kreis, Nr. 4/1944, Seite 22

2

Der Kreis, Nr. 12/1944, Seite 15

3

Der Kreis, Nr. 12/1944, Seite 15