Newsletter 176

August 2024

Diese Ausgabe enthält die folgenden Themen:

  • Karl Meier / Rolf zum 50-jährigen Todestag
  • Zweiter Teil: Freundesliebe und gelebter Glaube
  • Zum Tod von Irène Schweizer

Karl Meier / Rolf zum 50-jährigen Todestag

eos. Von seiner ledigen Mutter, der Glätterin Elisabeth Rheiner, erhielt Karl Meier die Vornamen Rudolf Carl bevor ihn das kinderlose Stickerpaar Johann und Wilhelmina Meier zu sich nahm und wie ein eigenes Kind umsorgte und aufwachsen liess. Geboren wurde er am 16. März 1897. Als 15-Jähriger adoptierte ihn das Ehepaar Meier 1912 offiziell. Zwei Jahre zuvor hatte die kleine Familie ein eigenes Haus in Kradolf (TG) bezogen. Karl Meier war stark evangelisch reformiert geprägt und, wie er später sagte, litt er deswegen jahrelang unter seiner homosexuellen Veranlagung, bis er sich "zum vollständigen inneren Gleichgewicht durchringen" konnte.1

Meiers Berufung war das Theater und dazu gehörte - auch um den Thurgauer Akzent wegzuschleifen - ein längerer Aufenthalt in Deutschland. Von 1924 bis 1932 war er vor allem an kleinen deutschen Bühnen tätig, wo man nicht nur Nebenrollen, sondern auch die grossen spielen und den gesamten Betrieb mitgestalten konnte. Die letzten vier Jahre verbrachte er im weiten Umfeld von Berlin, damals strahlendes Zentrum homosexueller Kultur. Dort prägte ihn vieles, was er später im KREIS anstrebte und teilweise verwirklichte. Dort auch erlebte er Menschen, die frei und offen zu sich standen und religiöse, sittliche Vorgaben überwunden hatten. Ein Jahr bevor die Hitler-Diktatur alles vernichtete, kehrte er 1932 in die Schweiz zurück und erhielt Engagements am Theater Bern-Solothurn und in Schaffhausen, wo man ihm sogar die Leitung des Stadttheaters anbot. Doch er hatte bereits in Zürich - u.a. im Cabaret Cornichon - Fuss gefasst und wollte an der Limmat bleiben.

Zweiter Teil: Freundesliebe und gelebter Glaube

1934 entdeckte er an einem Zürcher Kiosk das Heft Schweizerisches Freundschafts-Banner. Wenig später lernte er die Herausgeberin kennen, Anna Vock. Bereits in der Nummer 10 vom 15. Mai 1934 erschien sein erster Artikel unter dem Titel "Appell an alle!". Als Verfasser nannte er sich Rudolf Rheiner. In diesem Appell zeigte sich, was Karl Meier / Rolf unter seiner Art christlichem Denken und Sein verstand und wie er es mit der homosexuellen Veranlagung verband:

"Wir leben vorläufig noch in einer demokratischen Schweiz. Noch haben wir das Recht zu diskutieren, das freie Wort des freien Mannes zu verlangen. […] Ist das so selbstverständlich? Für die Schweiz, ja. Hoffentlich für die nächsten zweitausend Jahre noch! [Hitler nannte sein Deutschland das "Tausendjährige Reich".] Denn solange nicht Rechte eines Dritten verletzt werden, solange auch unsere Liebe im wahrhaft christlichen Sinne beweist, dass das Aufgehen des eigenen Ich im grösseren Du der beseligende Lebensinhalt bleibt, so lange, hoffen wir, gibt uns unsere Heimat das Recht, gegen die gesellschaftliche Ächtung zu kämpfen, die jahrhundertalten Vorurteile verkrampfter Lebensanschauungen fortzuräumen und alle mutlosen Menschen unserer Art zu einem frohen Lebensglauben und einer glücklichen Bejahung ihres Daseins zu führen!

Eines aber ist für jeden Menschen wichtig, für jeden Homoeroten besonders: Nur der geistig Kämpfende gestaltet das Leben! […] Wie schnell das scheinbar Selbstverständliche über Nacht mit einem Federstrich weggewischt wird, das haben die Homoeroten Deutschlands erlebt. Keine Zeitung und kein Klublokal existiert mehr. […] Umsonst die jahrzehntelange Forscherarbeit namhafter Gelehrter und eine Petition von dreihundert Namen von Weltruf aus Kunst und Wissenschaft, umsonst der Hinweis, dass diese Liebe seit Jahrtausenden bekannt ist und immer wieder in Menschen emporflammen wird, trotz Schmach und Gefängnis!

Es ist keine überhebliche Anmassung und keine billige Phrase: ohne diese Liebe wäre die Menschheit um manches unsterbliche Kunstwerk ärmer. […] Unsere Liebe wird hineingeboren in Hütte und Palast, sie brennt in der Brust des Kohlearbeiters und im Herzen des grossen Denkers. […] Sie ist nicht Abschaum oder Verirrung, sondern Geschenk aus einer grösseren Hand, das wir dankbar annehmen wollen und bewahren vor Schmutz und Geifer böswilligen Unverstandes. […]"

Offenbar drängte es Karl Meier / Rolf, die Frage nach der ethischen und religiösen Bestimmung seines Homosexuell-Seins auch unter Kameraden offen zu diskutieren. Ein unreflektiertes Ausleben dieser sexuellen Andersart erschien ihm fragwürdig. Es musste Sinn darin enthalten sein. Jenem Sinn ähnlich, den es im Leben und Sterben aller Menschen gibt, den die Religionen darbieten, aber den Homosexuellen verweigern. Sie mussten den Sinn selber finden. Er schrieb sich frei, veröffentlichte was ihn umtrieb und gab uns Späteren einen Schlüssel zu seinem geistigen Werden in der damaligen Zeit. In fünf Folgen vom November 1935 bis Februar 1936 erschien sein Bericht unter dem Titel "Der Homoerot vor Kirche und Bibel" im Schweizerischen Freundschafts-Banner, wiederum mit Rudolf Rheiner gezeichnet.

Fraglose Toleranz gegenüber andersdenkenden Kameraden

Der Autor war 38 Jahre alt und das allgemeine Befinden in der damaligen Schweiz war geprägt vom erschreckenden Erfolg der grossen Diktaturen in unmittelbarer Nachbarschaft, im Norden von Hitlers Nationalsozialisten und im Süden von den Faschisten Mussolinis. Für Homosexuelle war die Lage noch dramatischer. Einerseits verfolgten beide autoritären Mächte alle Homosexuellen massiv, insbesondere Deutschland nach dem Röhm-Putsch 1934 und der Verschärfung des §175 im Jahr danach. Andererseits hatten die Kirchen sehr grossen Einfluss auf die gesamte Gesellschaft, und ihre Lehre bestand auf eindeutiger Ablehnung jeder homosexuellen Regung als Sünde, die in die Hölle mit ihren Qualen führe. Homosexuelle, die sich zur Annahme ihrer Veranlagung durchgerungen hatten, liessen meist ihre Verbindung zu Religion und Kirche zerbrechen. Sie schufen sich ihre eigenen Vorstellungen oder waren Atheisten. Nur so konnten sie selbstbestimmte, freie Menschen sein. Andere quälten sich lebenslänglich. Und es gab jene, die christliches Menschsein und Freundesliebe zu verbinden suchten. Karl Meier / Rolf gehörte zu ihnen. Ihm gelang Aussöhnung durch Abgrenzung. Dass er lebte, was seine Überzeugung war, bewies er mit fragloser Toleranz gegenüber den vielen gänzlich andersdenkenden Kameraden im KREIS und in den Organisationen davor. Im Aufsatz "Der Homoerot vor Kirche und Bibel" gab er Einblick in das, was er später oft bestätigte, aber nie mehr so durchdacht niederschrieb.

Hören wir Karl Meier / Rolf zu:

"Jeder von uns, der Anspruch darauf erhebt, Christ zu sein, d.h. ein Mensch, der bestrebt ist, sein Denken und Tun mit jenen Forderungen Christi in Einklang zu bringen, die uns höher weisen in eine ehrlichere, reinere und frohere Daseinsform, wird einmal vor die Frage gestellt: Darf meine Liebessehnsucht Wirklichkeit werden? […]

In unseren Kreisen trifft man immer wieder Menschen, die sich von der Kirche nicht trennen wollen und trotzdem unter ihrem landläufigen Verdammungsurteil […] schwer leiden. […] Mancher löst sich zwar frühzeitig - und damit meines Erachtens rechtzeitig! - von engherzigen kirchlichen Forderungen und Wertungen, die vor der gewaltigen Vielfalt des Lebens nicht mehr bestehen können. Nach durchwachten Nächten und zahllosen inneren Kämpfen dringt er tiefer vor in das Wesen wahrer Religion, die auch ausserhalb der Kirchen lebendig ist, war und bleiben wird. […] Für diese ringenden Menschen schreibe ich. Ihnen glaube ich einiges sagen zu können, was mich das Leben, weise Menschen und tiefe Bücher lehrten.

Grundsätzlich muss betont werden: Der Fragenkomplex, den ich hier aufwerfe, kann in einem Artikel nur in grossen Umrissen angedeutet werden. […] Und restlos kann man die Auseinandersetzung schon deshalb nie zu Ende führen, weil es Hunderte von christlichen Kirchen und Gemeinschaften gibt, die sich alle auf die Bibel berufen und die sie alle anders deuten. Ein ungelöster Rest bleibt aber überall, auch im gewaltigsten Gedankenbau der Philosophie und sogar in den 'exakten' Naturwissenschaften. Es bleibt die Tragik des forschenden Menschengeistes, immer tiefere Zusammenhänge zu erkennen und doch nie ans letzte Ziel zu gelangen. […]
Kirche und Bibel! Welche grossen Gegensätze schon allein diese beiden Worte umschliessen, wissen wir alle. Zwei grundverschiedene Deutungen […], die protestantische und die katholische sind uns seit Kindertagen bewusst und vertraut. So vieles diese beiden Hauptkirchen auch trennt, in einem nehmen beide Richtungen [gemeinsam] eine ablehnende Stellung ein: in der sittlichen Wertung der Erotik. Beide Kirchen lassen die Sexualität nur als Mittel der Fortpflanzung gelten; jede geschlechtliche Tat, die nicht die Menschwerdung bezweckt, gilt als Sünde.

Zwei schwerwiegende Fragen stemmen sich uns da sofort entgegen:
1. Lässt sich die Stellung der Kirchen auf Jesusworte zurückführen?
2. Kann die Sexualität nur einen Sinn haben, wenn sie der Menschwerdung dient?

[…] Nach unseren heutigen Erkenntnissen steht fest, dass der gesunde Mann und die gesunde Frau der körperlich-seelischen Hingabe bedürfen, um gesund zu bleiben. Es ist nicht wahr, was man uns früher glauben machen wollte, dass jeder Mensch ohne gesundheitliche und seelische Schädigung unberührt bleiben könne. Psychoanalytische Sprechstunden und Irrenhäuser reden Bände. […]

Vor der Erfahrung des Lebens müssen die Kirchen ihre Stellung zur Erotik ändern, wenn sie nicht Hunderttausende ihrer Mitglieder zur ständigen Lüge verurteilen oder sie überhaupt verlieren wollen. […]

Wo ein [erotisches, homoerotisches] Gefühl leben-aufbauend und leben-verpflichtend sich Bahn bricht durch alle Jahrtausende vor uns - und sicher auch Jahrtausende nach uns - da ist es für jeden Christen notwendig, nach dem göttlichen Sinn auch dieses ihm noch einstweilen Unverständlichen zu forschen. […]

Wir haben von Jesus von Nazareth keine Worte, die Forderungen für das Geschlechtsleben bedeuten. […] Jesus hat uns nicht von jedem Gesetz befreit, er hat die Gesetze vertieft. Er will nicht den Buchstaben, er will den Sinn erfüllt sehen. Er will das Leben nicht verkrampfen, er will es erhöhen. Er will die Liebe. Und die Liebe kann eine wundersame Bestätigung und eine herrliche Kraftquelle in körperlicher Zärtlichkeit finden. Körperliche Zärtlichkeit unter Liebenden drängt immer zu geschlechtlicher Entspannung. Und hier sind wir beim entscheidenden Punkt angelangt: Die römisch-katholische Kirche gestattet nur eine [Art von] Geschlechtsgemeinschaft: zum Zwecke der Kinderzeugung. Ich kenne aber manche gute Katholiken, die bewusst die Empfängnis verhüten, ohne es je zu beichten. Sie tun es […] ganz einfach, weil sie einem Kinde - oder noch mehr Kindern - kein menschenwürdiges Leben mehr bieten könnten. […] Verschweigen die guten Katholiken diese Lebenstatsache ihren kirchlichen Vorgesetzten - und es sind nicht nur einige, sondern Tausende, die es tun - so sanktionieren sie selbst eine lebensfremde Forderung, die viele nicht ernst nehmen. […] Ist darum diese Forderung, die der kleinste Teil innehält, dennoch sittlich und auf Jesus gegründet? […]

Doch was hat 'Ehe und Geburtenregelung' mit uns zu tun, werden viele kopfschüttelnd fragen. Sehr viel! Anerkennt die Kirche eine Geschlechtsgemeinschaft zwischen Ehegatten auch ohne den Zweck der Kindererzeugung, so muss sie logischerweise eine Gemeinschaft zweier Freunde anerkennen, sofern diese Gemeinschaft vom Willen eines gemeinsamen Lebens erfüllt ist. Für den gleichgeschlechtlich Liebenden ist ja die Verbindung mit dem Freunde das für ihn natürliche. Das hat die unvoreingenommene Wissenschaft schon längst nachgewiesen, mag sich auch noch ein Teil ihrer Vertreter dagegen stemmen. Und würde die Kirche aus dieser wissenschaftlichen Erkenntnis heraus sich dazu entschliessen können, den Bund zweier Freunde zu segnen, um ihnen Gelegenheit zu geben, sich vor aller Welt in einem Leben gemeinsamer Arbeit und gemeinsamer Verantwortung zu bewähren - sie könnte sittliche Kräfte entfalten, die heute nur im Verborgenen blühen! Aber das ist wohl nur eine Utopie, die erst spätere Jahrhunderte selbstverständlich realisieren werden. […] Ob es von einem römisch-katholischen Gelehrten eine objektive Auseinandersetzung mit der Erscheinung der gleichgeschlechtlichen Liebe gibt, ist mir nicht bekannt.[…]

Verdammende Urteile gibt es auch von protestantischer Seite genug; alle diese Schriften brauchen aber nach meiner Ansicht von einem denkenden Menschen nicht ernst genommen zu werden, weil sie das Geschlechtliche immer nur - auch bei Mann und Frau - auf die Fortpflanzung beschränkt wissen wollen, quasi als notwendiges Übel, als tierischen Rest, der uns von dem vollkommenen Menschentum fernhält. Sie sehen nicht beide Erlebnismöglichkeiten einer Liebesumarmung. […] Sie sehen nur die Fratze der Geilheit, nicht das göttergleiche Antlitz des Beseligten. Sie glauben nicht, dass unter den gegenwärtig Lebenden Tausende und Abertausende unerkannt von der Masse, in einem Menschen gleichen Geschlechts den Sinn und Zweck ihres irdischen Daseins gefunden haben. […]

Ich bin zu Ende. Es war eine grosse und bedeutende Frage, an die ich mich heranwagte. Ich masse mir nicht zu, etwas lösen zu können, woran sich die fähigsten Köpfe zerreiben, ohne zu einem übereinstimmenden Ergebnis zu kommen. Aber ich bejahe meine Natur voll und ganz, auch vor dem reinen Antlitz Jesu, so wie ich es erfasse, verehre und liebe, denn ich habe aus seinem Munde nichts gefunden, was mich vor ihm verwirft. Ich habe ein Jahrzehnt gelitten, weil ich mich verworfen wähnte, aber alles Heulen und Zähneklappern der untersten Hölle vermochte mein [gleichgeschlechtlich gerichtetes] Gefühl nicht zu ändern. Ich weiss, dass die Stunde der unausweichlichen Rechenschaft auch einmal an mich herantreten wird. Ich weiss, dass auch ich in wenigen Tagen Asche sein kann. […] Ich glaube als Protestant, dass dieses Leben Verantwortung ist und das Jenseitige Folge dieser Tage. Ich weiss dies alles - und bin dennoch dankbar, dass mein innerstes Wesen den Freund sucht, der mit mir mein Leben teilt.

Katholizismus und Protestantismus - Formen der Gottesverehrung, Deutungen des göttlichen Willens, aber nicht der göttliche Wille selbst! Er schuf uns [Homosexuelle] - wer deutet seinen Willen? Hunderte! Und alle geben [ihrer einseitigen Deutung] einen anderen Namen: Laster, Krankheit, Verdrängung, Übersättigung, Angst vor der Frau, Verbrechen an der Natur… Alle wissen es am besten und keiner sieht das Ausschlaggebende: das Gefühl, das Gefühl, das seit Jahrtausenden den richtigen [seinen eigenen] Weg geht. Menschengesetze können es verdrängen, verbieten, verschütten sogar, aber töten können sie den Funken nicht! Nicht die Kirchen, nicht die Gesetze, nicht die Menschen! […]

Kirchen und Gesetze leiten Menschen für Menschen, damit das Leben reiner und schöner werde. Auch wir Homoeroten knien in den Kirchen und beugen uns unter Gesetze, die das Leben erhöhen und das Gemeine ersticken. Wo aber Leben und Liebe erstickt wird, die blühen könnten ohnegleichen, da sollten wir nicht mehr knien und uns nicht mehr beugen - da sollten wir aufrecht stehen und den Menschen der Kirchen und der Gesetze sagen, was wir als wahr erkannt, erlitten und erlebt:

Das Menschenrecht unserer Liebe!"

Quellenverweise und weiterführende Links:
1 André Salathé, "Rolf" Karl Meier (1897-1974) Schauspieler, Regisseur, Herausgeber des "Kreis", Sonderdruck aus Thurgauer Köpfe, Frauenfeld, 1997.
Rudolf Rheiner, Appell an alle! in: Schweizerisches Freundschaftsbanner, Nummer 10, 1934
Rudolf Rheiner, Der Homoerot vor Kirche und Bibel, in: Schweizerisches Freundschaftsbanner, Nummer 22, 1935
Kirche - Schwieriges Verhältnis zur Kirche auf schwulengeschichte.ch

Zum Tod von Irène Schweizer (1941-2024)

eos. Die grosse Pionierin des Klavier-Jazz war international bekannt. Als offen lesbische Frau engagierte sie sich stets für die gleichen Rechte aller gleichgeschlechtlich Liebenden. Ihre Ansichten äusserte sie präzise, oft scharf formuliert. Sie wuchs in einem Schaffhauser Gasthof auf, in dessen grossem Saal es meist festlich laut und mit viel Musik zu und herging. Daran nahm sie mit ihrer Handharmonika schon als Kind teil.

So kam sie sehr früh auch mit Jazz in Verbindung und weil sie das total faszinierte, verfolgte sie konsequent diesen Weg, nun auf dem Klavier, aber auch am Schlagzeug. Dabei entdeckte sie ihre Fähigkeit der Improvisation und wurde schliesslich eine Meisterin des Free-Jazz, die zusammen mit wechselnden Bands durch halb Europa tourte. Wer sie an einem Konzert hörte, vergass ihr Spiel nie mehr, auch wenn er, wie ich, sich nicht als Jazz-Fan bezeichnet. Dieses Besondere beschrieb Christoph Wagner in seinem Nachruf (NZZ vom 18. Juli 2024) unter dem Titel "Die Zauberin der Tasten":

"Meistens begann Irène Schweizer mit ein paar hingeworfenen Tönen, die sie immer weiter verdichtete und in perlende Läufe, dissonante Akkorde, flirrende Tremoli oder kantige Bebop-Phrasen verwandelte, bis sie als Schlusspunkt mit den Ellbogen ein paar mächtige Donnerschläge setzte."

An der feierlichen Eröffnung unserer Ausstellung "unverschämt, Lesben und Schwule gestern und heute" am 10. Oktober 2002 im Zürcher Stadthaus setzte sich Irène Schweizer an den grossen Flügel auf dem Podest und liess ihre improvisierten Töne langsam anschwellend die Halle füllen und, dem Echo lauschend, neue Rhythmen erfinden bis alles vibrierend Zeit und Raum verfliessen und vergessen machte. Am Schluss war Stille - bevor der Applaus aufbrandete. Musikalisch vertrat sie damals die Geschichte der Lesben; jene der Männer wurde durch den Schwulenchor schmaz besungen. So steht die berühmte Jazzpianistin am Anfang nicht nur der Ausstellung, sondern auch der daraus hervorgegangenen Website zur Schwulengeschichte. Wir werden sie immer dankbar in Erinnerung behalten.