Kirche

Schwieriges Verhältnis zur Kirche

In fünf Folgen1 rollte Rudolf Rheiner (Karl Meier / Rolf) von 1935 bis 1936 das konfliktvolle, mit Sünde belastete und verkrampfte Verhältnis der Kirche(n) zum Faktum Homosexualität auf und gab ihm, in Anlehnung an Caspar Wirz, den Titel "Der Homoerot vor Kirche und Bibel". Dabei gebrauchte er bewusst erstmals dieses Wort statt "der Homosexuelle". Denn er stellte den erotisch zu seinesgleichen Hingezogenen, den Homo-Eroten in die Mitte und formulierte seine Fragen unüblich und als Laie von diesem homoerotischen Menschsein her. Daraus einige Abschnitte:

"In unseren Kreisen trifft man immer wieder Menschen, die sich von der Kirche nicht trennen wollen und trotzdem unter ihrem Verdammungsurteil [...] schwer leiden. [...] Mancher löst sich zwar frühzeitig - und damit meines Erachtens rechtzeitig! - von engherzigen kirchlichen Forderungen und Wertungen. [...] Nach zahllosen inneren Kämpfen nur dringt er tiefer vor in das Wesen wahrer Religion, die auch ausserhalb der Kirchen lebendig ist. Manch einer aber wagt die entscheidende Fragestellung nie und kämpft jahrzehntelang einen hoffnungslosen Kampf.

Kirche und Bibel! Welche grossen Gegensätze schon allein diese Worte umschliessen, wissen wir alle. [...] Beide Kirchen lassen die Sexualität nur als Mittel der Fortpflanzung gelten; jede geschlechtliche Tat, die nicht die Menschwerdung 'bezweckt', gilt als Sünde. [...] Aber nach unseren heutigen Erkenntnissen steht fest, dass der gesunde Mann und die gesunde Frau der körperlich-seelischen Hingabe bedürfen, um gesund zu bleiben. Es ist nicht wahr, dass jeder Mensch ohne gesundheitliche und seelische Schädigung unberührt bleiben könne. [...] Vor der Erfahrung des Lebens müssen die Kirchen ihre Stellung zur Erotik ändern, wenn sie nicht Hunderttausende ihrer Glieder zur ständigen Lüge verurteilen oder überhaupt verlieren wollen.

'Der Protestantismus kennt keine unfehlbare Kirche und keinen unabänderlichen kirchlichen Lehrbegriff. Die Autorität hat in ihm nur Wert als Bestätigung unseres inneren Bewusstseins.'

Diese grundlegenden Worte stehen im Buche des deutschen2 protestantischen Theologen und Gelehrten Caspar Wirz: 'Der Uranier [Homoerot] vor Kirche und Schrift', erschienen bereits 1905 und trotzdem - wer von uns kennt es?

Darf der Geistliche, den Homoeroten, den er als solchen kennt, zurückweisen [vor dem Abendmahl]? Er muss, wenn er ein wahrhaft gläubiger Mann ist, sich fragen:

'In diese mir unergründlichen Geheimnisse der Natur will ich nicht hineinreden, vielmehr das Richten dem überlassen, der in des Menschen Herz hineinsieht.'

Der aber fragt nicht, was für einem Naturtriebe wir unterworfen seien, sondern ob er Demut und Glauben bei uns treffe. [...] Wo ein Gefühl sich lebenaufbauend und lebenverpflichtend Bahn bricht durch alle Jahrtausende, da ist es für jeden Christen notwendig, nach dem göttlichen Sinn auch dieses ihm noch einstweilen Unverständlichen zu forschen.

Wir glauben, dass bei dem starken Widerstand der Kirchen das Strafrecht und das öffentliche Bewusstsein nur sehr langsam in dieser Frage einen Wandel erleben wird. [...] Katholizismus und Protestantismus - Formen der Gottesverehrung, Deutungen göttlichen Willens, aber nicht der göttliche Wille selbst! Er schuf uns - wer deutet seinen Willen? [...] Wo aber Leben und Liebe erstickt wird, die blühen könnten ohnegleichen, da sollten wir nicht mehr knien und uns nicht mehr beugen."

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Ernst Ostertag, Juni 2004

Quellenverweise
1

Karl Meier unter dem Pseudonym Rudolf Rheiner: Schweizerisches Freundschafts-Banner, Nr. 22/1935 bis 4/1936.

Anmerkungen
2

Rudolf Rheiner (Karl Meier / "Rolf") zitiert Caspar Wirz aus einem in Deutschland erschienenen Werk und hält ihn für einen Deutschen! So unbekannt war Wirz damals.