186 - Ernst Ostertag - Studienreise nach Holland
Queer Officers
Newsletter 186
Juni 2025
Diese Ausgabe enthält die folgenden Themen:
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Ernst Ostertag - Studienreise nach Holland
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Bericht von der Generalversammlung
Ernst Ostertag - Studienreise nach Holland
dbr. Vor kurzem habe ich mit Ernst über Erfahrungen gesprochen, die ihn als jungen Menschen geprägt haben. Eine davon war eine Studienreise nach Amsterdam, die er 1948 mit der Vereinigung Ferien und Freizeit (VFF) unternommen hatte. Ernst war damals 18 Jahre alt.
Über eine Zeitschrift erfuhr Ernst Ostertag von dieser Organisation VFF, die bereits 1925 in Zürich gegründet worden war und 1947 erstmals nach dem Krieg eine Studienreise nach Prag organisiert hatte. Das weckte sein Interesse.
Ernst begann, sich an Veranstaltungen der VFF zu beteiligen und nahm an den - oft heftig geführten - Diskussionen teil.
"Wir haben nächtelang diskutiert. Bald schon fiel mir einer auf, der war ein grauenvoller Fundamentalist, aber trotzdem eine interessante Persönlichkeit. Er hat mich immer als 'bürgerlichen Besserwisser' bezeichnet, weil er halber Kommunist war. Das war Ernst Cincera, der später, in den 1970ern Mitglied bei der FDP war und genauso fundamentalistisch, aber jetzt äusserst rechts agitierte. In den 1980ern wurde er bekannt als 'Subversivenjäger', der sich vor allem gegen 'linke' Studenten an der Uni Zürich richtete und sie in einem selbstgeschaffenen Register auflistete."
1948 sollte die Reise nach Prag wiederholt werden, Ernst interessierte sich für eine Teilnahme, war er doch noch nie im Ausland gewesen. Er war damals Seminarist am Evangelischen Lehrerseminar Zürich-Unterstrass.
Mit dem Dampfzug nach Amsterdam
Der Februar-Umsturz der Kommunistischen Partei in der Tschechoslowakei beendete die Reisepläne des VFF. Eine neue Destination musste gefunden werden. Als Alternative wurde schliesslich Amsterdam gewählt und Ernst fand: "Das ist mir auch recht, sehr gut sogar, wunderbar."
Die Reise war neu als dreiwöchiger Studentenaustausch konzipiert, sodass jede/jeder Teilnehmende einer Gastfamilie mit etwa gleichaltrigem Sohn oder Tochter zugewiesen wurde, bei ihnen wohnte und anschliessend mit der Tochter oder dem Sohn in die Schweiz zurückreiste, wo sie/er in seiner Familie wohnen würde. Drei Jahre nach Kriegsende war diese Idee von Kontaktnahme, Land und Leute kennenlernen neu, mutig und hoch erwünscht. Natürlich gehörten Führungen aller Art dazu samt einer Lagerwoche abseits der Stadt in einer typischen Landschaft. Ernst erzählt:
"Ich musste wohl meinen Vater informieren, dass ich bei meiner Rückkehr einen Austauschschüler mitbringen würde, der bei uns wohnen sollte. Mein Vater war sofort einverstanden. Ich meinte zu ihm: 'Das kostet aber etwas.' Seine Antwort war typisch für ihn: 'Du hast ja bald drei Wochen Frühlingsferien, dann gehst du eben auf den Bau arbeiten, ich vermittle dir gerne eine Stelle.' Also machte ich das, ging auf den Bau, arbeitete von morgens sechs Uhr bis abends fünf Uhr mit einer Stunde Mittagszeit für CHF 1.10 pro Stunde und verdiente so die CHF 150.00 Reisekosten samt dem nötigen Taschengeld. Für Schlafen und Verköstigung des holländischen Studenten verlangte der Vater nichts, er freue sich auf diesen Gast."
Im Sommer 1948 fuhr die Gruppe etwa zur Mittagszeit mit dem Zug in Basel ab. Es war ein Dampfzug mit fünf oder höchstens sechs Wagen der französischen Staatsbahnen, und diese waren proppenvoll. Abends hielt der Zug in Thionville nahe der Grenze zu Luxemburg. Dort musste Kohle nachgeladen werden und es ging die ganze Nacht weiter durch die Ardennen bis man am Morgen in Maastricht ankam. Geschlafen hat Ernst im Durchgang zwischen zwei Wagen auf seinem Koffer. Am Bahnhof in Holland stiegen sie aus und mussten sich erst mal an einer Wasserstelle waschen, denn vom Rauch der Lokomotive waren Gesichter, Haare und Hände ganz schwarz. Weiter ging es mit einem modernen elektrischen Zug nach Amsterdam, wo die Gruppe nach total 24 Stunden endlich eintraf.
Die Gastfamilie
Ernst trifft das Ehepaar Vredenburgh mit ihrem Sohn Max. Dieser Familie war er zugeteilt, er beschreibt die Begegnung so:
"Ich schaute die Frau an, sie war äusserst elegant, diszipliniert und zugleich sehr liebenswürdig. Der Mann war eher ein Künstlertyp und ich dachte: 'Das könnten Juden sein.' Ich habe sie auf Deutsch begrüsst und die Frau meinte sofort: 'Entschuldigung, ich spreche diese Sprache nicht, vous parlez français?' Dabei sprach sie hervorragend deutsch. Da ich während des Krieges immer Zeitung gelesen hatte, wusste ich natürlich, warum Niederländer diese Sprache ablehnten, Juden erst recht."
Man hatte sich viel zu erzählen. Sie waren tatsächlich Juden. Ernst passte hervorragend zu diesen Menschen. Denn wie er waren sie an Kunst und Kultur interessiert, auch an Literatur und Geschichte - und an Geschichten jeder Art. Die Konversation auf Französisch wurde aber rasch mühsam. Ernst wie auch die Mutter sprachen nicht besonders gut Französisch. Der Mann beherrschte diese Sprache überhaupt nicht, doch auch er konnte Deutsch, sprach es aber nicht. Das Ehepaar begann untereinander und mit Ernst Holländisch zu sprechen in der Hoffnung, dass er es langsam besser verstehen würde. Mit der Zeit wurde der Drang, einander viel und Genaueres zu erzählen so gross, dass die Frau sich schliesslich überwand und meinte: "Nun denn, ich muss!" Damit wechselte sie ins Deutsche, "es ist ja noch immer die Sprache von Goethe und Schiller. Ich muss es tun und Überwindung schaffen."
Die Familie wohnte an der Frans van Mierisstraat, südlich des Vondelparks. Der Vater war Zahnarzt und hatte seine Praxis im Haus - und sein Hobby war die Stadtgeschichte Amsterdams. Hier war er aufgewachsen. Hier hatte er immer gelebt, wie alle seine Vorfahren. Er kannte jede Strasse und viele Geschichten und freute sich sehr, dass auch Ernst so grosses Interesse zeigte. Max, den Sohn der Sohn der Familie, bezeichnet Ernst als verschlafenen Typen. Er war zwar intelligent, sprach aber fast kein Wort. Ernst bedauerte ihn und versuchte, ihn aus der Defensive zu holen. Die Eltern freuten sich, dass sich endlich jemand um ihr einziges Kind bemühte. Mit der Zeit wurde Max tatsächlich lebhafter und begann mit Ernst zu diskutieren, auf Deutsch, das während der Besetzung ein Schulfach war.
Die Geschichte des Krieges aus erster Hand
Von den Eltern erfuhr Ernst ihre Geschichte, wie sie den Krieg überlebt hatten. Als die Deutschen nach Amsterdam kamen, zeigten ihnen Nachbarn ein Loch in der Wand, das sie geschlagen und davor einen Schrank gestellt hatten. Das Loch führte in einen schmalen Raum zwischen den Häusern, in dem das Ehepaar Vredenburgh fast vier Jahre lang gelebt hatte, von 1940 bis Ende 1944. Die Nachbarn brachten ihnen dorthin Essen und alles Nötige. Auf die Strasse gehen konnten sie ab 1943 nur nachts, wenn Fliegeralarm die Luftangriffe der Alliierten anzeigte. Dann trauten sich die deutschen Besatzer nicht auf die Strasse. Selbst wenn irgendwo Geschosse einschlugen oder Bomben fielen, jetzt, nach drei Jahren im Notraum konnten die beiden endlich etwas spazieren, sich frei bewegen und fühlten sich dabei vor den Deutschen sicher.
Ernst erklärt: "Die berühmte Anne Frank schilderte dasselbe in ihrem Tagebuch. Ich kannte es nicht. Ich las davon erst zwei Jahre später, als die erste deutsche Ausgabe erschien."
Vater Vredenburgh beschäftigte vor dem Krieg eine Zahnarztgehilfin, die in der Nähe von Groningen auf einem Bauernhof zu Hause war. Als die Deutschen kamen, nahm sie den 10-jährigen Sohn der Familie mit sich auf den Hof und gab ihn als ihr eigenes uneheliches Kind aus. Sie werde ihn nach dem Krieg wieder zurückbringen, war die Abmachung. Und so geschah es tatsächlich.
An einem Beispiel, das ihm Frau Vredenburgh erzählte, erfuhr Ernst, wie entsetzlich diese Zeit "im Bunker" war:
"Eines Tages zeigte mir die Frau lange Narben an ihrem Oberarm. Sie stammten von den Fingernägeln ihres Mannes. Sie sei einmal völlig durchgedreht und habe nur noch laut geschrien und um sich geschlagen, sodass ihr Mann sie mit stärksten Schmerzen habe beruhigen müssen. Ihr Ausbruch hätte sie beide verraten können."
Sichtlich bewegt erzählt Ernst weiter:
"Ich wusste ja, was im Krieg geschehen war, weil ich immer alles gelesen habe, was mir in die Finger kam. Als Kind leidet man unter solchen Geschichten und fühlt sich mitschuldig. Als Zeitgenosse solcher Ereignisse bleibt etwas zurück, das schmerzt und dich ein Leben lang begleitet. Das hört nie auf…auch wenn du nichts Konkretes getan hast: Das Grauenvolle geschah zu deiner Zeit.
Ich habe mich schon sehr früh für alles auf der Welt interessiert, schon mit 10 Jahren las ich Zeitungen und hörte Radio. Ich wusste viel darüber, was in dieser langen Zeit überall passierte und auch, was von den Deutschen verbrochen wurde. Die Informationen, die uns während des Krieges zur Verfügung standen, waren oft mit Propaganda vermischt. Mein Vater hatte mich stets ermahnt, alles zu lesen, von allen Seiten Informationen aufzunehmen und mir ein eigenes Bild zu machen. Denn in solchen Zeiten werde viel gelogen und Wahrheiten würden vertuscht.
Insgeheim hatte ich gehofft, dass ich eines Tages Menschen treffen würde, die mitten im Geschehen gestanden hatten und mir aus erster Hand erzählen könnten."
Darum hörte Ernst der jüdischen Familie begierig zu und stellte unzählige Fragen. Die Mutter meinte einmal, sie hätte noch nie über diese Erlebnisse reden können und schon gar nicht auf Deutsch. Der Vater zeigte ihm die ganze Stadt und erzählte Geschichten von bemerkenswerten Orten. Die Familie war gebildet und pflegte einen Freundeskreis von Künstlern und Intellektuellen, die sie auch für Abende einluden, um Ernst dabei sein zu lassen. Sie warnten ihn aber, nicht von der Kriegszeit zu sprechen. Trotzdem zeigte ihm einer der Gäste seine am Arm eintätowierte KZ-Nummer und nannte Buchenwald, wo er halb tot kurz vor Kriegsende befreit worden sei. Er endete:
"Ja, das haben die Nazis neben Weimar hingebaut; man wird Schiller und Goethe nie mehr ohne Buchenwald nennen können, es gehört ebenso zur deutschen Geschichte."
Aussergewöhnliche Zeiten erforden aussergewöhnliche Einstellungen
Auch ein Abonnement für das Concertgebouw hatten die Vredenburghs. Der Bau lag in der Nähe ihrer Wohnung. Sie meinten, Ernst hätte sicher Freude an der Musik dort. Und Vater Vredenburg erklärte: "Ich verzichte, Sie können an meiner Stelle hingehen."
Ernst ging mit Frau Vredenburgh hin und war begeistert. Er erzählte ihr von Besuchen in der Tonhalle in Zürich, die er mit seiner Mutter gemacht hatte. Auch seine Eltern hatten dort ein Abonnement und Ernst konnte seine Mutter begleiten, als der Vater während des Krieges im Aktivdienst war.
Zum Schluss unseres Gesprächs sagt Ernst ganz bestimmt:
"Aussergewöhnliche Zeiten erfordern aussergewöhnliche Einstellungen, bedingen aussergewöhnliches Überdenken und schaffen ein Bewusstsein und ein Denkvermögen, das weit über das Alter eines Kindes hinausgeht, weil man hineingeworfen ist und sich damit befassen muss."
Er fährt weiter:
"Eines Tages erzählte Frau Vredenburgh mir von deutscher Literatur. Sie kannte alles von Lessing über Goethe und Schiller, auch die romantischen Dichter und die späteren, Fontane, Theodor Storm, nur nicht Gottfried Keller und C.F. Meyer. Die brachte ich ihr bei. Sie meinte schliesslich: 'Die deutsche Sprache ist so schön und reich, dank dir komme ich nun wieder dem Guten in dieser Sprache näher.' "
Ernst sprach Französisch, wenn er mit der Reisegruppe unterwegs war. Er hatte erlebt, dass die deutsche Sprache bei der Bevölkerung schlecht ankam. Einmal in der Strassenbahn gab ihm ein Mann eine Ohrfeige, als er ihm eine deutsche Antwort auf dessen Frage gab. Der Mann brüllte ihn an 'Deutsch!?' Ernst gab zurück: 'Nee, Svizzer.' Der Mann bat sofort um Verzeihung und lud ihn zu einem Bier ein.
Strand, Sonne und erste Verliebtheiten
Die Reisegruppe pflegte ein vielfältiges Programm, besuchte Volendam und Marken, Haarlem, Leiden, Den Haag, das noch stark zerstörte Rotterdam und auch den Norden, Alkmaar und den Abschlussdamm der Zuiderzee mit neuen Polders. Auch Ausflüge ans Meer gehörten dazu, nach Zandvoort und von Den Haag aus mit der Strassenbahn nach Scheveningen. In den Städten besuchten sie Museen, wichtige Gebäude und schöne Paläste und vor allem und immer wieder die Gemäldesammlungen der berühmten alten Meister. Nach all den Einschränkungen während des Krieges bestand grosser Hunger nach schönen Dingen. Die Lagerwoche verbrachten sie in Noordwjik aan Zee und erlebten Meer und Dünen, Wind und grosse Quallen auf dem Strand. Am Strand aber taten sie auch das, was viele junge Menschen schon immer taten, sich in der Sonne räkeln, baden, das Leben geniessen, lachen, flirten und ein bisschen sich verlieben.
In seinem Reisetagebuch schreibt Ernst unter dieses Foto:
De Paul (Wollishofen) mit siim Madi (Haarlem)
Auch so kann die holländisch-schweizerische Freundschaft aufgefasst werden. …und Paul war nicht der einzige, der sie tatsächlich so auffasste, nein - ehrlich gesagt - wir alle machten es gleich.
Allerdings erzählt mir Ernst im Gespräch, dass er das Foto von Paul nur darum in sein Reisetagebuch aufgenommen hat, weil er heimlich in den Jungen verliebt war und dieser auf dem Foto, nur in Badehose gekleidet, für ihn attraktiv aussah. Obwohl er schon lange wusste, dass er anders empfand, aber erst vier Jahre später, dass er nicht der einzige auf der Welt war, blieb es für ihn selbstverständlich, dass er seine Verliebtheit weder zeigen noch ausleben konnte, auch wenn er sehnsüchtig schrieb: "Wir alle machten es gleich."
Die Reise in die Niederlande erwähnt Ernst Ostertag im Newsletter 108, Dezember 2018
Parallel zum Kreis gab es in den Niederlanden eine Schwulenorganisation, den 'Shakespeare Club', der 1949 in 'Cultuur- en Ontspannings-Centrum' (COC) umbenannt wurde. Als COC ist die Organisation heute noch aktiv.
Mehr zu den Entwicklungen in den Niederlanden auf schwulengeschichte.ch
Generalversammlung Verein schwulengeschichte.ch
hpw. Die Generalversammlung vom 20. Mai im Kulturhaus Helferei Zürich erfreute sich reger Teilnahme. Ernst Ostertag hat sich im Januar als Schreiber des Newsletters zurückgezogen. Zum Dank für die grossartigen Texte der letzten Jahre überreichte der Vorstand Ernst einen Blumenstrauss. Der Wechsel verlangt nach einer Neukonzeption des Newsletters. Diese wird vom Vorstand im Laufe des Jahres 2025 angegangen.
Die Teilnehmer hiessen die Jahresrechnung und den Jahresbericht gut und wählten die bisherigen Vorstandsmitglieder Hans Peter Waltisberg, Mauro Smedile und Daniel Bruttin einstimmig mit Akklamation. Ebenso mit Akklamation wiedergewählt für ein weiteres Jahr wurden die Revisoren René Forster und Franz Freuler.
Nach Ablauf der statuarischen Geschäfte entstand eine rege Diskussion unter den Teilnehmern mit verschiedenen Anregungen für den Vorstand zur weiteren Vernetzung und Möglichkeiten der Finanzierung von Projekten. Wir nehmen diese gerne auf.
Der Vorstand möchte hier allen Mitgliedern und Spendern einmal mehr ausdrücklich danken für ihre Unterstützung - und ganz besonders bedanken wir uns bei den Teilnehmern der Generalversammlung.
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