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Oktober 2025

Diese Ausgabe enthält das folgende Thema:

  • Endlich darf diese Musik wieder erklingen: Robert Oboussier (1900-1957)

Endlich darf diese Musik wieder erklingen: Robert Oboussier (1900-1957)

eos. Zum 125-jährigen Jubiläum dieses Schweizer Komponisten wird wieder Musik aus seinem Werk auf­ge­führt. Fast siebzig Jahre lang war sie bei uns totgeschwiegen und ver­ges­sen. Ein 18-jähriger "Stricher", damals gängige Bezeichnung für Sex­worker, ermordete 1957 den inter­national bekannten und geschätzten Künstler Robert Oboussier. Damit zerbrach ein Tabu. Homosexualität war nach Gesetz nicht verboten, aber geächtet. Und das Schutz­alter war 20, ein 18-jähriger also minderjährig. Dieser Tod brachte sowohl das Opfer wie sein gesamtes Werk sofort in Ächtung.

Jetzt aber ist es gelungen, etwas davon wieder öffentlich hörbar und einem interessierten Publikum zu­gäng­lich zu machen. Ob die Musik Oboussiers Menschen von heute berührt und anspricht, das kann sie nur selbst beweisen. Uns war es wichtig, ihr endlich diese Chance zurückzugeben.

Das kulturelle Zürich feierte die Juni-Festwochen 1957. Am Diens­tag, 4. Juni gab es in der Tonhalle ein Konzert im Rahmen der Internationalen Weltmusiktage, organisiert von der Schwei­ze­rischen Gesell­schaft für Neue Musik. Auf dem Programm stand u.a. ein Werk von Robert Oboussier: seine Drei Psalmen für Soli (Sopran/Tenor), Chor und Orchester, entstanden 1947. Ein Freund, der Dirigent und Pianist Hans Willi Haeusslein, hatte Röbi Rapp und mich darauf aufmerksam gemacht und uns eingeladen. Damals hörten wir zum ersten Mal den Namen Oboussier. Haeusslein erzählte von ihm und schilderte ihn als her­vor­ragenden Komponisten. Wir fanden seine Musik fas­zi­nie­rend. Sie war im Stil spätromantisch bis typisch Neue Musik, auf sehr eigene Art und Weise packend, geistreich und eindringlich. Röbi und ich waren stark beeindruckt - wie das ganze Publikum. An diesem Abend habe ich Robert Oboussier auch das einzige Mal gesehen, da er beim Applaus aufs Podium trat und den Moment sichtlich genoss. Hans Willi Haeusslein kannte den Künstler per­sön­lich. Hätte er gewusst, dass Oboussier schwul war, würde er es uns bestimmt gesagt haben. Hans Willi war Abonnent des Kreis. Dort haben wir uns kennen gelernt.

Am Donners­tag, 6. Juni sassen wir im Zürcher Opern­haus, das damals noch Stadt­theater genannt wurde. Auf recht aben­teuer­liche Weise kamen Röbi und ich zu Plätzen. Denn aus aller Welt reisten Gäste für diesen Abend an; das Haus war rest­los aus­ver­kauft. Die grosse Auf­merk­sam­keit galt der szenischen Ur­auf­füh­rung von "Moses und Aron", einer unvoll­ständigen Oper von Arnold Schönberg aus den Jahren 1923 bis 1928. Das Werk, in Zwölf­ton­reihe komponiert, galt als un­auf­führ­bar. Seither setzte es sich jedoch auf vielen Bühnen durch. Wir sahen ihn zwar nicht, vermuteten aber, dass Robert Oboussier als Gast an diesem Anlass eben­falls teil­nahm, was uns Hans Willi Haeusslein später bestätigte.

Vier Tage später, am Pfingstmontag vernahmen wir von der Mordtat, die am Vortag, dem 9. Juni geschah. Die Nach­richt traf wie ein Schlag und ver­brei­tete sich sofort in der gan­zen Community. Wir waren ent­setzt und kon­ster­niert. Lang­sam keimte Un­si­cher­heit auf. Wird das Folgen haben? Und welche? Existenz­ängste wuchsen, wurden aber sofort verdrängt. Nur keine Panik! Wir rückten im KREIS zusammen. Und warteten.

Heute wissen wir, es kam schlimmer. Es gab weitere Morde. Wir verloren alles, den KREIS, jede Sicherheit. Die Polizei griff durch und missachtete auch Gesetze, um uns in ihr Homoregister zu zwingen. Sie wollte damit Verbrechen verhüten. Es war eine falsche Strategie. Sie ging nicht auf. Zwanzig Jahre später begannen wir uns neu zu organisieren und vor allem mutig in die Öffentlichkeit zu treten. Als ersten Sieg erreichten wir 1979 die offizielle Vernichtung der Homoregister.

Mord auch am Werk Oboussiers

Sofort nach dem Mord begann die kulturelle Elite Oboussiers Werk zu ächten. Angesagte, bereits ein­studierte oder in Pro­grammen vor­gesehene Auf­füh­rungen in Konzert­sälen wie am Radio wurden annulliert, Schallplatten blieben unverkauft oder wanderten in Archive, Noten­manu­skripte und gedruckte Stücke ver­staub­ten ungenutzt in Schränken und Schub­laden. Bereits ange­setzte Konzerte wurden zurück­gezogen mit der Begründung, man wolle keinen Skan­dal riskieren. Der Mord geschah auch an seinem Werk. Ein zweiter Tot­schlag.

Das empörte Röbi und mich dermassen, dass wir schworen, irgend­wann in ver­nünfti­geren Zeiten uns dafür ein­zu­setzen, dass diese Musik wieder ge­spielt und vor Publi­kum gebracht werde. Wir wussten um den Ver­lust für musik­interessierte Menschen, wenn verengtes Denken jetzt dieses Werk verbannte - vom Unrecht gegen­über dem Komponisten ganz abgesehen.

Vernünftigere Zeiten würden jedoch erst dann anbrechen, wenn unsere gesamte Community gemein­sam den Kampf für gleiche Rechte weit­gehend gewinnen könnte und diese Rechte Wirk­lich­keit und politisch verankertes Gesetz geworden wären.

Einer der vielen Schritte auf dem Weg dazu war die Aus­stellung "unverschämt, Lesben und Schwule gestern und heute" im Zürcher Stadt­haus vom Winter 2002/03. Sie zeigte die Ent­wick­lung und Geschichte der Emanzipation und Befreiungs­bewegung von Lesben und Schwulen in der Schweiz von den Anfängen im frühen 19. Jahr­hundert bis in die Gegen­wart, also über einen Zeit­raum von fast 200 Jahren. In Zusammen­arbeit mit der Musik­abteilung der Zürcher Zentral­biblio­thek (ZB) erstellten Röbi und ich eine Hörstation, wo jede Besucherin, jeder Besucher eine CD mit Werken von Robert Oboussier in End­los­schleife hören konnte. Sie wurde recht eifrig benutzt, und wenn wir nach­fragten, klangen die Kommen­tare durch­weg positiv, erstaunt, berührt. Natürlich gab es daneben einen Hinweis auf den Komponisten, seinen tragischen Tod und das Ver­schwinden seiner Werke. 

Dank schwulengeschichte.ch wiederentdeckt

Danach blieb es wieder still. Auch nach Röbis Tod (2018) suchte ich weiter nach Musikern, Dirigenten, Veran­staltern, die sich interessieren könnten. Meine Beziehungen waren spärlich.

Schliess­lich erreichte mich am 10. August 2021 eine Mail-Nach­richt via Redaktion unserer Website schwulengeschichte.ch. Es war Nanni Jelinek, Präsidentin des Mandolinen­orchesters Zürich (MOZ), die geschrieben hatte und vom 100 Jahre Jubiläum des Zupf­musik­verbandes Schweiz berichtete, das am 2. und 3. April 2022 statt­finden werde. Das Ganze sei als zwei­tägiges Musik­festival mit vielen Gruppierungen aus allen Landes­teilen geplant. Das MOZ lege besonderes Interesse auf Neue Musik aus der Schweiz. Als Präsidentin recherchiere sie daher ständig, was sie nun zu Robert Oboussier und auf unsere Platt­form oder Web­site geführt habe. Sofort sei sie beim Lesen hell­hörig geworden: "Über die ZB Zürich erhielt ich den Klavier­auszug von 25 'Ab­bre­via­ti­onen' [Oboussiers], wo ich einen Teil auf YouTube" fand. Diese Partitur liege nun in den Händen des bekannten Gitarristen und Dirigenten Christian Wernicke. "Er wird einige Aus­züge davon für Zupf­orchester bearbeiten und wir planen, dieses Werk zum Zupf­festival auf­zu­führen." Nanni Jelinek beendete ihre Mail-Nachricht mit "Es war mir wichtig, das eurer Platt­form zu schreiben - viel­leicht freut sich der Autor in seinem hohen Alter noch über ein spätes Feed­back zu seinen Texten und über die Wieder­auf­nahme eines kleinen Stücks der Musik von Oboussier."

Natürlich freute ich mich riesig und besuchte acht Monate später jenen Teil des Jubiläums-Festivals mit dem MOZ-Auftritt. Besonders gespannt war ich auf die Abbreviationen. Sie waren "ein Erlebnis", etwas, das sich "über alles andere heraus­hob". Anschliessend in Gesprächen hörte ich diese Beur­tei­lungen. Sie stammen nicht von mir.

In die Schweizer Musikzeitung (SMZ) liess Nanni Jelinek eine Kritik mit folgender Schluss-Passage setzen: "Eingerahmt wurde das Festival mit Erst- bzw. Ur­auf­füh­rungen zweier Schweizer Komponisten. Den Auftakt bildeten Auszüge aus '25 Ab­bre­via­ti­onen' von Robert Oboussier, der 1957 in Zürich ermordet wurde. Als sich heraus­stellte, dass er homo­sexuell und ein Strich­junge sein Mörder war, wurden er und sein zuvor sehr geachtetes Werk ver­drängt. In diesem Pro­jekt sollte ein Stück seiner Musik wieder lebendig werden. Dieses klein­tei­lige und facetten­reiche musi­ka­lische Klein­od zeigt, dass noch viel spannende Musik von Oboussier zu entdecken ist. Zum Abschluss über­raschte das Verbands­orchester 'zupf.helvetica' mit der Auf­trags­kom­position 'Schwärme' des jungen Berners Ramon Bischoff. Sein ex­peri­men­telles Werk spielt mit ver­schiedenen Klang­ideen, die mal flächig, mal punktuell wirken. […] Das Pub­likum feierte den anwesenden Komponisten mit grossem Applaus." (Mitteilung per E-Mail vom 8. April 2022)

Damit vernahm ich erst­mals von diesem jungen Komponisten und fragte Frau Jelinek, ob sie ihn über Oboussier informieren und dabei auf den Wunsch nach weiteren Auf­führungen dieser Werke hin­weisen könnte. Das geschah im Zusammen­hang mit einem für den 13. November 2022 geplanten Konzert des MOZ, zu dem Oboussiers Ab­bre­via­ti­onen neu ein­ge­übt werden sollten. Im Vor­feld dieses Konzerts kam es am 29. September zum direkten Mail-Kontakt mit Ramon Bischoff, der sich nun für Oboussier und dessen Musik einsetzen wollte: "Unglaublich interessiert habe ich mich diesen Früh­ling, gleich nach der Auf­führung der Ar­range­ments der Ab­bre­via­ti­onen für Zupf­orchester, in die Bio­grafie Oboussiers eingelesen. Ihre und Herrn Rapps Auf­arbeitung [in schwulengeschichte.ch] half dabei ganz fest, die tragischen Vor­gänge, die auf seinen Tod folgten, einordnen zu können. Ich habe im Sinne, die wichtigsten Werke Oboussiers neu (und meist zum ersten Mal!) auf­zu­nehmen und zusammen mit einem Schweizer Musik­label zu ver­öffent­lichen."

Veranstaltungen und Publikationen zum Jubiläum

Aus diesen Anfängen entstanden die Ver­an­stal­tungen und Publi­kationen zum 125. Jubiläum Robert Oboussiers im Oktober und November 2025. Das ganze Programm umfasst Konzerte, Lesungen, Gespräche, eine CD mit neu­ein­gespiel­ten Werken und ein Buch, das zwei­sprachig in Deutsch und Französisch Bei­träge ver­schie­dener Au­to­rinnen und Autoren enthält. Sie beleuchten von unter­schied­lichen Seiten sowohl Musik und Bio­grafie Oboussiers wie auch die Umstände des gänz­lichen Ver­schwei­gens.

Die Konzerte mit Podiums­gesprächen finden am 3. Oktober im Konservatorium Zürich und am 5. Oktober im Yehudi Menuhin Forum Bern statt. Die Konzerte und Gespräche folgen am 17. Oktober im Lavater­haus Zürich und am 19. Oktober im Zingghaus Köniz. Die Buchvernissage ist auf den 21. November im Foyer des Stadt­theaters Biel/Bienne angesagt. Zudem wird eine Buch­vernissage und CD-Taufe am 3. Dezember durch den Verein queerAltern im Zürcher Kweer Bar&Café durchgeführt.

Das Gesamt­programm mit weiteren Informationen wie Zeit­angaben und Ticket-Kauf sind auf www.oboussier.ch ersichtlich.