1957

Mord im Milieu!

Die Nachricht von der Ermordung des homosexuellen Komponisten Robert Oboussier durch einen minderjährigen Strichjungen ging nach dem 9. Juni 1957 wie ein Lauffeuer durchs "Ghetto", die Abonnentenschaft des Kreis. Unsere verborgen gehaltene "andere Seite", die wir im Schatten des herrschenden Tabu "Homosexualität" einigermassen sicher leben konnten, sie stand jetzt in grellem Licht und wurde gleichgesetzt mit Prostitution und Kriminalität. Das schaffte Unsicherheit und Angst. Die einen rückten zusammen, andere zogen sich zurück, alle wollten möglichst anonym bleiben.

Am 26. Dezember kam es zum zweiten Mord im selben Milieu. Nun wurde uns klar, dass nichts mehr so bleiben würde, wie es bisher war.

In grossen Teilen der Öffentlichkeit breitete sich rasch eine Art Hexenwahn aus. Und der galt uns, den Schwulen, über die man mit Ekel berichtete. Das Zürcher Milieu sei eine Schande für alle, für die Stadt, für die Nation. Wie konnte es soweit kommen? Wo treffen sich die Schuldigen? Wer sind sie? Wie lässt sich diese "Pest" ausmerzen, möglichst bis auf die Wurzeln und für immer? Eine objektive und differenzierte Sichtweise war nicht opportun, sie schien ausgeblendet. Wir waren Freiwild geworden.

Beide Mörder wurden relativ rasch gefasst; der zweite sofort, dank der präzisen Hinweise eines Kreis-Abonnenten. Beide Opfer waren weder Abonnenten des Kreis noch jemals Gäste bei KREIS-Veranstaltungen gewesen.

Vor und während der Mordprozesse wurden die beiden Getöteten, also die Opfer, systematisch zu Schuldigen gemacht und als Abartige, Verkommene bezeichnet, die mit Geld minderjährige, noch unreife Jugendliche in ihre Lasterhöhlen lockten. Dort seien sie dann für jene perversen Schweinereien gefügig gemacht worden, die dem entsprechen, was Homosexuelle "Liebe" nennen.

Für die Sensationspresse war das ein willkommenes Geschäft. Sie schürte eine Form paranoider Hysterie, die an Vorgänge im Deutschland der 30er Jahre erinnerte. Gewisse linke und rechte Politgruppen, religiöse und andere Fanatiker riefen nach rigorosem Durchgreifen und Einsatz für Ordnung. Sie beschuldigten die angeblich large Haltung der "bürgerlichen" und "aufgeschlossenen" Mitte.

In diesem Klima wurde sogar die Justiz verbogen. Im zweiten Mordfall fällten die Richter ein klares Unrechtsurteil: Der Mörder erhielt 14 Monate, wobei die Strafe mit der Untersuchungshaft abgegolten war. Entlassung am Tag der Urteilsverkündung. Die Folge: eine Welle der Genugtuung, "Sieg der Menschlichkeit!" titelte eine sonst seriöse Illustrierte.

Die "wohlanständige Gesellschaft" fühlte sich (wieder) rein und ehrbar.

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Ernst Ostertag, September 2005 und März 2012