Newsletter 192

Dezember 2025

Diese Ausgabe enthält die folgenden Themen zum Welt-Aids-Tag:

  • Von zwei Männern in einem Raum, HIV und Aids

  • Leben - Tod - Trauer - Hoffnung - Perspektiven - Normalisierung

     

Von zwei Männern in einem Raum, HIV und Aids

drf. Im August dieses Jahres erschien im Wallraff-Verlag Walter Vogts auto­bio­grafische Erzählung "Zwei Männer in einem Raum". Der Text entstand 1986 und war bis jetzt in der so­ge­nann­ten "Geheimschublade spez." im Schweizerischen Literatur­archiv ver­steckt. Grund genug für die Aids Hilfe Bern, zu ihrem 40. Jubiläum den Schrift­steller und Psychiater Walter Vogt in den Mittel­punkt zu stellen. Im Rahmen einer Buch­ver­nissage wurden am 31. Oktober 2025 in der Villa Ber­nau nicht nur Text­passagen vor­ge­le­sen. Illustre Podiums­gästen re­flek­tierten die erste Zeit von HIV und Aids, schlugen aber auch Brücken zu Themen, die unsere Organi­sa­tionen heute beschäftigen.

Vor genau 40 Jahren am 1. Dezember 1985 wurde die Aids Hilfe Bern gegründet - drei Jahre bevor die Welt­gesund­heits­orga­ni­sa­tion den 1. Dezember zum Welt-Aids-Tag erklärte. Die dama­lige Stimmungs­lage in der Schwulen­welt skizzierte ein gewisser Martin im Info der Homo­sexuellen Arbeits­gruppen Bern HAB zwei Jahre zuvor im Sommer 1983 mit der pro­vo­ka­tiven Frage: "Habt ihr schon Aids?". "Mög­licher­weise tickt die Zeit­bombe bereits in uns, mög­licher­weise haben wir den Tod schon dutzend­weise weiter­gegeben. Wir werden erst am Ende sehen, wie es war." Martin prophe­zeite: "Die einen [Schwulen] werden "Mönche" werden, die andern nach einem Gott rufen, die dritten werden in Ehe und Familie flüchten".

1986 wurde der Schrift­steller und Psy­chi­a­ter Walter Vogt Präsi­dent der Aids Hilfe Bern. Bea Aebersold, bis 2020 Geschäfts­lei­terin der Berner Aids Hilfe, erinnert sich: "Es war zu jener Zeit alles andere als selbst­ver­ständ­lich, dass ein Mann von seinem Format und Preis­trä­ger ver­schie­denster Literatur­preise sich für die Aids-Prob­lema­tik ein­setzte und für die Betroffenen öffent­lich und mit Über­zeu­gungs­kraft Stellung bezog." Von seiner Anteil­nahme am Los HIV-positiver Men­schen zeugt seine letzte Ver­öffent­lichung. Das Stück "Die Betroffenen" handelt von Liebe und Tod und benützt als Aus­gangs­material Protokolle von Aids-Kranken. Walter Vogt starb am 21. September 1988 im Alter von 61 völlig unerwartet.

"Tiere haben es besser, sofern man sie als Tiere leben lässt, sie haben eine Sexualität, aber sie wissen es nicht, denken nicht darüber nach, entwickeln keine Schuldgefühle, und wenn es so etwas wie Gebärneid, Penisneid bei Tieren gibt, dann bestimmt aus aktuellem Anlass, nicht als lebenslängliches, bedrückendes, das Leben zerstörendes Problem."

Walter Vogt in "Zwei Männer in einem Raum"

Als Gastgeberin der Ver­an­stal­tung wies Chantal König, heutige Geschäfts­lei­terin der Aids Hilfe Bern, dass "Zwei Männer in einem Raum" nicht nur die Liebe in Zeiten von Aids, sondern auch die Geschichte der Beziehung eines "Verschonten" zu einem wesent­lich jüngeren Infizierten erzählt. Als Heraus­geber des Buches hob Guy Krneta die Wichtigkeit Walter Vogts als literarische Stimme der Schweiz in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hervor. 

Der Schriftsteller Christoph Geiser war einer der Geliebten Walter Vogts. Er schrieb für das Buch "Zwei Männer in einem Raum" unter dem Titel "Im Kiez" ein "Vorbeben", daraus er dann auch während der Veranstaltung vorlas:

"Und - es kommt vom Ficken. Vom Gefickt-Werden. Und - es trifft nur die Schwulen. Das darf doch nicht wahr sein … Sie starben wie die Fliegen."

Kim de l’Horizon verfasste unter dem Titel "Im Spiegel aus Fell" für Walter Vogts Text ein "Nachbeben" - versehen mit einer Trigger­warnung, da im Text "rassistische und andere dis­kri­mi­nierende Inhalte" vorkommen, um sie "kritisch zu reflek­tieren":

"Sein ehemaliger Geliebter ist eher ein Tier als ein Mensch, wird nur über seinen nicht mehr begehr­baren, begeh­baren Kör­per beschrieben. Der ‘Kroate’ ist nur ein namen­loser Körper für ihn, keine Person, sondern ein amimalisches, wildes und un­er­wach­senes Wesen, das man nicht ernst nehmen, nicht für voll nehmen muss."

Leider konnte Kim de l’Horizon an der Buch­ver­nissage nicht teil­nehmen. Statt­dessen sorgten Mia Willener (Vorstands­mit­glied von hab queer bern) und Donat Blum (schreibt in Zürich, Lima und Berlin) für ein "Nach­beben". Mit Jahr­gang 1983, bzw. Jahrgang 1986 sind beide Personen Ver­treter:innen der jüngeren Ge­ne­ra­tion von queeren Men­schen. Mia identi­fiziert sich als trans und Donat als nicht-binär, kann aber mit schwul-männ­lichen Zu­schrei­bungen leben.

Mia Willener deutete in ihren Aus­füh­rungen auf dem Podium die Wich­tig­keit von Walter Vogts Text gerade wegen seiner rohen, un­ge­schlif­fenen und dadurch ehr­lichen und direk­ten Art an. Für sie ist wichtig, dass wir uns auch mit Texten, die uns viel­leicht unan­ge­nehm sind - Stich­wort: triggern -, aus­ein­ander­setzen müssen, da doch unsere Ver­gangen­heit immer auch ein Teil unserer Gegen­wart ist: "Ich finde es weiter­hin wich­tig, viel­leicht sogar noch wich­tiger als zuvor, dass wir die ‘Geheim­nisse’ unserer Community erfor­schen und teilen".

Donat Blum versucht in seinen literarischen Texten immer wieder das Thema "Männlichkeit" mit kritischen Reflexionen zu verbinden - etwa im von Donat herausgegebenen und in der Zwischenzeit vom Verlag zurückgezogen Buch "Oh Boy: Männlichkeit*en heute". Dabei wirft er bewusst oft mehr Fragen auf, als Antworten zu geben. So fragte Donat in der Villa Bernau etwa in die Runde: "Warum sind die schwulen Stimmen so leise geworden?". Viele Anwesenden nickten dabei zustimmend. Sie wussten wohl die Antwort.

Leben - Tod - Trauer - Hoffnung - Perspektiven - Normalisierung

drf. Fast 30 Jahre lang hat Peter Briggeler für die Aids Hilfe Bern gearbeitet. In diesem Jahr wurde er pensioniert. Er hat in Bern eine Zeit mit­geprägt, in der sich Aids von einer töd­lichen in eine gut therapier­bare Krank­heit gewandelt hat - die Vor­ur­teile gegen­über Infizierten haben sich jedoch hart­näckig gehalten.

In der Chronik "50 Jahre bewegt" von hab queer bern (vormals Homo­sexuelle Arbeits­gruppen Bern HAB) hat Peter Briggeler sich mit HIV, mit Aids, mit sich und seinem Job bei der Aids Hilfe Bern aus­einander­gesetzt.

Peter Briggelers erster Arbeits­tag bei der Aids Hilfe Bern war am 1. Februar 1996. Als schwuler Mann fühlte auch er sich damals durch das HI-Virus bedroht, hatte Freunde oder Bekannte, die mit dem HI-Virus lebten oder an Aids gestorben waren. So motivierten ihn neben den beruf­lichen Mög­lich­keiten, die ihm die Stelle bei der Aids Hilfe Bern bot, auch die per­sön­liche Betroffen­heit, den Job anzutreten.

Wir pub­lizieren nach­folgend eine gekürzte Fassung seines Texts aus der Chronik "50 Jahre bewegt".

Die Zeit vor der Therapie: Leben - Tod - Trauer

Alle, die diese Zeit erlebt haben, können sich sicher noch an die vielen schwer­kranken und von den Folgen des ver­lorenen Kampfes gegen das heim­tückische und tod­bringende HI-Virus gezeich­neten Men­schen erinnern. Und an die Trauer über den Verlust von so vielen Men­schen und den Schmerz der Freunde, Familien und Verwandten.

HIV und Aids hatten eine eigen­tüm­liche An­ziehungs­kraft, sie haben viele Men­schen erschreckt und ab­ge­stossen und anderer­seits fas­ziniert und in ihren Bann gezogen. Der Sexual­wissen­schaftler Martin Dannecker hat dies einmal, als das "Numinose Aids" bezeichnet (Numinos: das Anziehende und Schrecken erregende gleich­zeitig).

In den ersten Jahren war die Zusammenarbeit mit der schwulen Community intensiv und sehr eng. So wurde die Aids Hilfe Bern aus der Betroffenheit von schwulen Männern gegründet. Sie waren es, die diese Institution von Beginn weg massgeblich geprägt und mitgetragen haben. Aktionen und Interventionen wurden gemeinsam geplant und durchgeführt. Im damaligen "anderLand" in der Berner Matte hatten wir jeden Dienstagabend einen Treffpunkt für HIV-positive Menschen, den Begleiter:innen von der Aids Hilfe Bern und allen sonst interessierten Personen. Gemeinsam wurde gekocht, gegessen und über Gott und die Welt diskutiert. Man hat aber auch um den Verlust von Menschen, die man gekannt hatte, getrauert.

Die Zeit mit der Therapie: Hoffnung - Perspektiven - Normalisierung

1996 gab es Zeichen der Hoff­nung auf eine Behand­lungs­mög­lich­keit der HIV-Infek­tion. An der Welt-Aids-Kon­fe­renz in Vancouver wurde eine neue Therapie vor­ge­stellt, die die Ver­mehrung des HI-Virus im Körper ein­dämmen konnte. Uns allen, die in diesem Bereich tätig waren, aber sicher auch vielen schwulen Männern fiel ein grosser Stein vom Herzen. In den folgenden Jahren wurde diese Therapie für alle HIV-positiven Men­schen zugäng­lich. Das war der Durch­bruch: Alle Men­schen mit HIV hatten wieder eine Lebens­per­spek­tive.

Ein weiterer Meilenstein war das Statement der Eidgenössischen Kommission für Aids-Fragen (EKAF) von 2008, das festhielt, dass HIV-positive Menschen unter erfolgreicher Therapie nicht mehr infektiös sind. HIV-positive Menschen mussten nicht mehr mit der Angst leben, jemand mit dem HI-Virus zu infizieren. Der schon erwähnte Martin Dannecker hat dies als das "Profane Aids" be­schrie­ben (Profan: das All­täg­liche, ohne her­aus­ragende Bedeu­tung).

Im Verlaufe der Zeit haben sich die Wege der Aids Hilfe Bern und der schwulen Community zunehmend getrennt. Für viele schwule Aktivisten war das ein schmerz­licher Prozess. Die Aids Hilfe Bern war für viele "ihre" Institution, und das Los­lassen war für sie schwie­rig.

HIV ist heute eine behandel­bare chronische Erkrankung. Die Therapien werden immer verträglicher. Menschen unter Therapie sind nicht mehr infektiös, und mit anderen Mass­nahmen wie PrEP (Prä­expositions­pro­phylaxe) und PEP (Post­expositions­pro­phylaxe) können mögliche Infektionen vor einem Risiko (PrEP) und nach einem Risiko (PEP) verhindert werden. Daher können wir an­neh­men, dass sich zukünf­tig immer weniger Men­schen mit HIV infi­zieren.

Ende einer aufgezwungenen Symbiose

Offenbar geht eine lange gemein­same Geschichte der auf­ge­zwungenen Sym­biose von HIV und schwulem Leben lang­sam zu Ende. Eine Heraus­for­derung bleibt aller­dings, dass jetzt Men­schen mit HIV, darunter zahlreiche "Lang­zeit­über­lebende" aus der Aids-Krise, ins Alter kommen, in Pflege­insti­tu­tionen umziehen zu müssen. Sie haben einmal mehr berech­tigte Angst, diskriminiert zu werden. Bleibt der Wunsch an die schwule Community, dass sie auch weiterhin HIV-positiven Men­schen mit Mit­gefühl be­geg­net und sich diese auf Solidarität verlassen können.