Ächtung und Gesetzgebung
Zuerst entstand die Ächtung. Sie geht auf die biblische Geschichte vom Untergang der Städte Sodom und Gomorra zurück (1. Moses, Kp.19 und 20). Mit dieser "Strafe Gottes" wurden zunächst sexuelle Akte unter Männern, später auch unter Frauen und von Menschen mit Tieren verknüpft. Die verhängnisvolle Verbindung des Geschehens von Sodom mit diesen Formen sexueller Betätigung erfolgte erst in frühchristlicher Zeit und blieb zunächst auf den Einflussbereich der Kirche beschränkt.
Mit der im Jahre 534 beendeten Gesetzgebung unter Kaiser Justinian übernahm die weltliche Gerichtspraxis die kirchliche Sicht und Beurteilung der "Sünde Sodoms". Von da an stand die Kapitalstrafe auf dieser "Sünde" und setzte sich fort bis - mit Unterbrüchen - ins 20. Jahrhundert: Eine Art 1400 Jahre dauernder Holocaust an gleichgeschlechtlich veranlagten Menschen.
Die systematische Kampagne der Ächtung ging nach Justinian weiter. Hauptsächlich durch kirchliche Lehrpersonen wurde sie dermassen vorangetrieben bis schliesslich eine fast unauslöschlich tief sitzende Abscheu das allgemeine Bewusstsein prägte, Abscheu vor einer "Liebe, die ihren Namen nicht zu nennen wagt" (Oscar Wilde).
Erst mit der Aufklärung, der Französischen Revolution, dem wachsenden Bewusstein für Menschenrechte und - parallel dazu - dem Niedergang des kirchlichen Einflusses auf Gerichtsbarkeit und öffentliches Leben gelang ein neues Strafgesetz ohne "Aberglauben" und moralisch gefärbte Vorurteile: Im nachrevolutionären code civil Frankreichs und im code Napoléon blieben gleichgeschlechtliche Akte unerwähnt.
Doch in der nachnapoleonischen Restauration kehrte der "Aberglaube" zurück und damit auch die gesetzliche Kriminalisierung "sündiger" Akte, jetzt "widernatürliche Unzucht" genannt. Dies für weitere fast 150 Jahre.
Ernst Ostertag, August 2010