Langsamer Gesinnungswandel
Der lange Weg zur Straffreiheit
Erst im 17. Jahrhundert wurde der Scheiterhaufen durch "humanere" Todesstrafen ersetzt und ab zweiter Hälfte des 18. Jahrhunderts, als der Einfluss von Aufklärung und Humanismus wuchs, begann sich die Einkerkerung mit oder ohne Zwangsarbeit als Strafe durchzusetzen.
Infolge der Besetzung durch die napoleonischen Truppen 1898 wurde die Alte Eidgenossenschaft 1803 zur Helvetik. Die französische Gesetzgebung wurde übernommen: 1804 der "Code civil" (Zivilrecht), später "Code Napoléon" genannt, und 1810 der "Code pénal" (Strafgesetz). Darin gab es erstmals keine Paragraphen, die homosexuelle Akte erwähnten und unter Strafe stellten.
Diese Paragraphen wurden jedoch später mit der teilweisen Restaurierung der Alten Ordnung ab 1815 in fast allen Kantonen, vor allem jenen der Deutschschweiz und im Tessin wieder eingeführt.
In der Folge waren bis 1942 auf fast dem ganzen Gebiet der Schweiz zeitlich unterschiedliche Gefängnisstrafen vorgeschrieben, die für die Verurteilten meist den finanziellen und gesellschaftlichen Ruin bedeuteten. Das trieb Unzählige in den Suizid oder ins Exil und schuf mancherlei Formen von Kriminalität, beispielweise ein florierendes Erpressertum, was dem Sinn eines Rechtsstaates widerspricht.
Zugleich begann im 19. Jahrhundert die Medizin und im 20. Jahrhundert die Psychiatrie sich der "Krankheit Homosexualität" anzunehmen. Mit verheerenden Folgen für die Betroffenen - bis hin zur Zwangskastration, die in einzelnen Kantonen noch bis 1965 ausgeführt wurde. Und mit ebenso verheerenden Folgen für die Bewusstseinsbildung in breiten Schichten des Volkes: Es gab nun Eltern, die ihre eigenen Kinder als krank einstuften oder in ihrer psychischen Entwicklung als zurück- oder stehengeblieben wähnten und sie daher oft entsprechend behandeln liessen.
Im späten 20. Jahrhundert setzte sich in Europa langsam die Straffreiheit für homosexuelle Akte unter Erwachsenen in allen Bereichen, auch im Militär, durch. Das geschah nicht ohne den mutigen öffentlichen Kampf der Betroffenen selbst: In der Schweiz mit der Revision des StGB von 1992, als auch das Schutzalter für beide Geschlechter gleichgesetzt und die Kriminalisierung der männlichen Prostitution aufgehoben wurde. Gegen das Gesetz gab es Widerstand aus den stets selben Kreisen, die jedoch in der von ihnen erzwungenen Volksabstimmung unterlagen.
Ernst Ostertag, Dezember 2005